1.240 Migration, Integration, Assimilation


Gliederung - Übersicht


1. Einleitung
2. Migration – Begriffsbestimmung
3. Geschichte der Migration – wichtige Beispiele
3.1 Die Bibel und das jüdische Volk
3.2 Das Zeitalter der Entdeckungen, Eroberungen und der Kolonisation
3.3 Wanderungsbewegungen und Umsiedlungen nach dem 1. Weltkrieg
3.4 Flucht, Vertreibung, Aus- und Umsiedlung nach dem 2. Weltkrieg
3.5 Neue Migrationsbewegungen im 21. Jahrhundert
4. Integration
4.1 Definition – Was ist Integration?
4.2 Systemintegration und Sozialintegration
4.21 Systemintegration
4,22 Sozialintegration
4.3 Assimilation oder multiethnische Gesellschaft?
4.31 Assimilation
4.32 multiethnische Gesellschaft
4.33 Mischformen und Übergangsstufen zwischen Multiethnischer Gesellschaft und
Assimilation - neue Minderheiten
5. Besondere Integrationsprobleme in Deutschland
5.1 Staatsangehörigkeit und Gastarbeiter
5.2 Struktur der Migranten in Deutschland – Menschen mit Migrationshintergrund
5.3 Besondere Migrationsprobleme mit türkischen Migranten und Muslimen
5.31 Türkische Migranten
5.32 Aleviten in Deutschland
5.33 Kurden in Deutschland
5.34 Vielfalt der Identitäten bei Migranten aus der Türkei
5.4 Muslime in Deutschland
6. Konsequenzen und Perspektiven




1. Einleitung

Bei der Vorbereitung weiterer Posts über europäische Ethnien und Minderheiten sind mir immer wieder Parallelen zu den aktuellen Problemen mit Migranten, Zuwanderern und Asylanträgen in Deutschland bewusst geworden. Bei den derzeitigen Diskussionen in Deutschland und anderen europäischen Staaten und auch bei der Beschäftigung mit früheren Wanderungsbewegungen der Menschheit stößt man auf eine Vielzahl von Begriffen, die nicht eindeutig definiert sind. Dabei denke ich besonders an die Begriffe Migration, Integration, Assimilation, aber auch Akkulturation, (nationale) Identität, Multikulturalismus und alle damit gedachten Prozesse, ihre Hintergründe und praktischen Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Daher möchte ich den Versuch unternehmen, etwas Licht in das Dunkel dieser Begriffe zu bringen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, dass meine Ausführungen vollständig sind. Nein, vor mir haben viele Wissenschaftler – vor allem Soziologen – versucht, eindeutige Definitionen zu finden, was aber auch ihnen nur unzureichend gelungen ist. Dennoch sind verschiedene Erkenntnisse aus der Soziologie hilfreich, die ablaufenden Prozesse bei der Migration besser zu verstehen. Ebenso kann es hilfreich sein, sich der vielen Migrationsbewegungen der Vergangenheit bewusst zu sein und auch daraus Schlüsse für die heutigen Herausforderungen zu ziehen.
Auch habe ich gelernt, dass sich in diesem Zusammenhang immer wieder neue Probleme ergeben, die von früheren Generationen gar nicht bedacht wurden. So spielen z. B. in der jüngsten Zeit aufgrund gewachsener Mobilität auch Prozesse der Transnationalisierung eine große Rolle, die mit dem Begriff Transmigration und den verschieden ausgeprägten doppelten Staatsbürgerschaften zu beschreiben sind.[1] 
Ich halte es deshalb für notwendig, dass die bereits eingetretenen Veränderungen in unserer deutschen und europäischen Bevölkerungsstruktur bewusst gemacht werden. Vor allem muss bei den Europäern die Erkenntnis wachsen, dass die bereits abgelaufenen Prozesse nicht umkehrbar sind. Deshalb gilt es, ohne Emotionen und Vorurteile über sie zu sprechen und Lösungen für ein friedliches Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu finden. Das wird nicht leicht sein, zumal das Thema in diesem Jahr 2017 durch verschiedene politische Ereignisse besonders emotional und kontrovers diskutiert wird. Tatsächlich gibt es aber keine Alternative zur friedlichen Integration auch von Migranten aus fremden Kulturen, die bei uns angekommen sind und mit hoher Wahrscheinlichkeit in großer Zahl auch dann bleiben, wenn sich in ihren Heimatländern die politische Situation ändert.


2. Migration - Begriffsbestimmung

Migration (von lateinisch: migratio = Aus-wanderung, migrare = wandern, wegziehen) hat es zu allen Zeiten der Menschheit gegeben. Die Ursachen sind vielfältig und betreffen sowohl Einzelpersonen, Familien, Gruppen und ganze Bevölkerungen bzw. ethnische Gemeinschaften.
Die Vorstellung, dass Menschen sesshaft sind, ist nur im oberflächlichen Sinne zutreffend. In der Realität bleiben sie selten ein Leben lang dort, wo sie geboren sind. Sie sind in Bewegung und ständig auf der Suche nach neuen und besseren Lebensbedingungen und Lebensoptionen. Der amerikanische Soziologe Robert E. Park (Universität Chicago) hat bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts die These vertreten, dass die Fortschritte in der Geschichte und die Prozesse der Zivilisation nur durch kontinuierliche Migrationsbewegungen von Menschen und die dadurch eintretenden Vermischungen von Völkern und Kulturen möglich geworden sind.
Zu unterscheiden sind freiwillige Gründe, die zur Auswanderung führen, z. B. neue berufliche oder private Ziele, besondere (vor allem wirtschaftliche) Anreize fremder Staaten, staatliche und private Anwerbeaktionen und / oder schlechtere berufliche Bedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten am angestammten Wohnort. Nach gründlicher Prüfung, Einholen von Informationen erfolgt dann der Entschluss zur Migration, z. B. zum Umzug im eigenen Land oder zur Auswanderung in nähere oder fernere „Welten“. Konkrete Gründe sind: neue oder besser bezahlte Arbeitsplätze,  Möglichkeiten des Landerwerbs, Möglichkeiten zur Gründung von  Handels-, Handwerks- oder Industriebetrieben, aber auch familiäre Gründe (Heirat, Familien-Zusammenführung u.a.)
Davon zu unterscheiden ist die unfreiwillige bzw. aufgezwungene Migration: z. B. die Abwanderung oder Flucht aus politischen, religiösen, ethnischen oder rassistischen Gründen, bei Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft oder staatlichen Zwangsmaßnahmen gegen Einzelne oder Gruppen bis hin zu Vertreibungen, ethnischen Säuberungen, Deportationen, Umsiedlungen u. a., aber auch Hunger, Armut, Zerfallen gewachsener Strukturen, Bürgerkriege und zunehmend Umweltveränderungen (Ausbreiten der Wüsten, Anstieg der Weltmeere, Überschwemmungen u. a.)[2]
Generell ist die Verlegung des Wohnsitzes innerhalb der eigenen Staatsgrenzen zwar  auch eine Migration. Diese Binnen-Migration soll im Rahmen dieser Abhandlung aber nicht näher betrachtet werden. Vielmehr geht es hier um die Verlagerung des ständigen Lebensmittelpunktes in einen anderen Staat, ggf. sogar einen anderen Kontinent und besonders einen anderen Kulturkreis. Man spricht hier von internationaler Migration. Aufgrund der Kriege und Verfolgungen im Nahen Osten, der Bevölkerungsexplosion in Afrika, Asien und Südamerika bei gleichzeitiger Verarmung weiter Bevölkerungskreise  ist das Thema Migration zur Zeit sowohl in Europa wie in Nordamerika und Australien hochaktuell.

3. Geschichte der Migration – wichtige Beispiele

Migration hat es – wie schon erwähnt - zu allen Zeiten der Menschheit gegeben, ja man kann sogar sagen, dass erst durch die Auswanderung des Homo Sapiens aus Afrika die eigentliche Menschheitsgeschichte begann. Sie setzte sich fort in den Wanderbewegungen der Sammler- und Jägerkultur, der Nomaden- und Völkerwanderungen. Die aus meiner Sicht wichtigsten Migrationsbewegungen habe ich nachfolgend zusammengestellt:

3.1 Die Bibel und das jüdische Volk

Das Alte Testament – die hebräische Bibel – beschreibt eigentlich unablässig die Wanderungsbewegungen des jüdischen Volkes, damit aber auch symbolisch den Exodus der ganzen Menschheit. Die Bibel, das Grundbuch abendländischer Kultur, berichtet in Geschichten, Mythen, Bildern, Liedern, Gebeten, Klagen und Visionen von Vertriebenen, Ausgezogenen, Geflohenen, Entkommenen und Heimatlosen, von Heimatverlust und Heimatsuche. Es beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies, oberflächlich die Geschichte von erster Sünde und Strafe. Aber man kann sie auch als Grunderfahrung des Menschen lesen, der nach der Kindheit in die eigenverantwortliche Welt entlassen wird und sich als Erwachsener einen neuen Lebensmittelpunkt suchen muss.[3] Es folgen die Sintflut-Geschichte  – als Beispiel für Migration aufgrund von Umweltkatastrophen -, der Turmbau zu Babel als Erklärung der Wanderungsfolgen, die babylonischen Gefangenschaft als Beispiel von politisch bedingter Zwangs-Migration.
Nach der Zeitenwende bis in unsere Tage ist das jüdische Volk wohl eines der bekanntesten Beispiele für freiwillige und unfreiwillige Wanderungsbewegungen. Es beginnt mit der Zerstreuung in alle Länder der damals bekannten Welt nach der Niederschlagung des Aufstands der Israeliten gegen die Römer im Jahre 70 n. Chr., wobei es - wie wir aus der Bibel wissen -schon vorher eine große jüdische Diaspora gab. Ihr religiöses Anderssein verhinderte fast immer eine Assimilation und führte nicht selten zu weiterer erzwungener Migration. Denken wir nur an die Pogrome des Mittelalters und der Neuzeit in verschiedenen Ländern, die Vertreibung der sephardischen Juden aus Spanien 1492 und 1513, die sie vor allem ins Osmanische Reich (auf den Balkan und nach Nordafrika), aber auch nach Nordeuropa  (Niederlande, Frankreich, Norddeutschland) führte, und in der Folge bis nach Übersee. Im Unterschied zu den Sepharden hatten sich die Aschkenasim bereits nach vielen Wanderungsbewegungen  im Nahen und mittleren Osten und in Mittel- und Osteuropa niedergelassen.
Im 20. Jahrhundert beginnt schließlich im Zeichen des von Theodor Herzl begründeten Zionismus eine Rückwanderung ins „gelobte Land“ nach Palästina. Aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung und der Shoa nach 1933 erfolgt eine Auswanderungswelle europäischer Juden im großen Umfang vor allem nach Palästina, aber auch in die Vereinigten Staaten und nach Nordafrika (vor allem Marokko und Algerien). Nach dem Ende des 2. Weltkriegs und der Gründung des Staates Israel folgte die 2. große Einwanderungswelle in den neu gegründeten jüdischen Staat, die bis zur Stunde noch nicht abgeschlossen ist. Vor allem die gewachsene antisemitische Haltung in den arabischen Staaten führte wiederum zur Migration von Juden aus Nordafrika und nahezu allen islamischen Ländern. So ist die Zahl der Juden in Marokko seit 1948 von 265.000 auf weniger als 5.000 zurückgegangen. Die meisten Juden Algeriens sind heute Bürger Frankreichs. So besteht beispielsweise die jüdische Gemeinde von Paris mit ca. 200.000 Mitgliedern vornehmlich aus algerischen und marokkanischen Juden.[4] Schließlich sei noch erwähnt, das die in Deutschland durch die NS-Herrschaft fast ausgestorbene jüdische Gemeinde nach der Wende in den 1990er-Jahren wieder erstarkte, weil viele Juden aus Russland und der ehemaligen Sowjetunion wegen dort anhaltender Diskriminierung nach Deutschland auswanderten und hier nun neues jüdisches Leben begonnen hat.

3.2 Das Zeitalter der Entdeckungen, Eroberungen  und Kolonien 


Mit der Entdeckung Amerikas, des Seewegs nach Indien, der Entdeckung Australiens und Ozeaniens begann eine bis dahin nicht bekannte Migrationsbewegung. Vor allem Engländer, Spanier und Portugiesen, aber auch Franzosen und Niederländer begannen die Landnahme und Besiedlung der neuen Kontinente und teilten sie unter sich auf. Deutschland und Italien kamen Ende des 19. Jahrhunderts als „späte Nationen“ dazu. Aus allen europäischen Ländern machten sich Auswanderer auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. Befördert wurde die Auswanderung – vor allem nach Nordamerika (USA und Kanada) durch die Religionskriege nach der Reformation, die zur kompletten Auswanderung nicht geduldeter religiöser Minderheiten führte (Calvinisten, Wiedertäufer, Mennoniten, Hutterer, Amische, aber auch Katholiken, Lutheraner und Reformierte aus anders regierten Staaten, weil dort das Motto herrschte: cuius regio, eius religio oder „wes der Fürst, des der Glaub“).
Bis zum Beginn des Industriezeitalters im 19. Jahrhundert setzt sich die Auswanderung fort, aus Deutschland vor allem aus armen ländlichen Regionen, wo die nachgeborenen Söhne keine Entwicklungsmöglichkeiten hatten und zum Teil auch große Hungersnöte herrschten. Zwischen 1815 und 1930 emigrierten mehr als 50 Millionen Europäer aus ökonomischen oder politischen Gründen nach Übersee, davon 38 Millionen in die USA.[5]
Parallel zur europäischen Auswanderung wurden Sklaven aus Afrika unter menschenunwürdigen Bedingungen zwangsweise nach Nord- und Südamerika als billige Arbeitskräfte gebracht, deren Nachkommen dort noch heute in der Regel zu den sozial unteren Schichten gehören und immer wieder rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Aus dem indischen Subkontinent wurden 12 bis 37 Mio. "indentured worker" durch die "Britisch East India Company" rekrutiert, um in britischen Kolonialgebieten (z. B. Südafrika, Malaysia)  für eine vertraglich vereinbarte Zeit zu arbeiten. Wie oft bei Migranten wurden sie am Ort ihrer Tätigkeit sesshaft.[6]
Der afrikanische Kontinent wurde im 18. Und 19. Jahrhundert unter den europäischen Mächten aufgeteilt und von diesen für den eigenen Markt ausgebeutet. Außer Verwaltungsbeamten und Militärs siedelten sich auch hier europäische Bauern, Handwerker und Händler an, allerdings in unterschiedlicher Zahl in den einzelnen Staaten. Bevorzugt wurden die für Europäer klimatisch günstigeren Regionen im Norden und Süden (Franzosen in Algerien, Briten und Kapholländer = Buren in Südafrika, Deutsche in Namibia)
Die Einwohner Australiens haben alle – bis auf die weniger als 2% Aborigines – einen Migrationshintergrund. Seit 1788 haben die britischen Behörden die Aborigines weitgehend ausgerottet oder in unwirtliche Zonen vertrieben,  Siedler angeworben, ihre Reisekosten im wesentlichen übernommen und Sozialdienste für sie eingerichtet. Bis zum 2. Weltkrieg verfolgte Australien eine rassistische Einwanderungspolitik. Zunächst wurden vor allem britische Einwanderer – u. a. auch viele Sträflinge – angesiedelt. Andere Europäer wurden zwar geduldet, hatten zunächst aber einen schwereren Stand. Vor allem fürchtete man die asiatische Einwanderung, die gelbe Gefahr. Noch in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden britische Einwanderer bevorzugt, indem sie ihre Überfahrt subventioniert bekamen und ihre Familien sofort mit einreisen durften. Um die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, wurden seit 1947 aber auch andere Europäer ins Land gerufen, u. a. auch viele Deutsche. Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wanderten jährlich zwischen 50 und 185.000 Europäer nach Australien ein. Nach einem wirtschaftlichen Abschwung in den 1970er-Jahren wurde die Einwanderungspolitik nochmals geändert, indem vor allem nur noch hochqualifizierte und wenig ungelernte Zuwanderer akzeptiert wurden. Aber gleichzeitig wurde auch ein Schlusspunkt unter die ausschließlich weiße Einwanderung gesetzt. Als erstes wurden viele Vietnamflüchtlinge aufgenommen. Es folgten Einwanderer aus Indien, China und nach der „Wende“ im Ostblock aus Russland und Ex-Jugoslawien. Heute ist Australien ein Land des Multikulturalismus, so die 1989 verkündete „National Agenda for a Multicultural Australia“. Damit wurde jeder Einwanderungsgruppe zugesichert, ihre besondere nationale oder religiöse Identität zu pflegen.[7]

3.3 Wanderungsbewegungen und Umsiedlungen nach dem 1. Weltkrieg

Die Folgen des 1. Weltkriegs sind bis auf den heutigen Tag zu spüren. Die multinationalen Staaten Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich brachen auseinander. Es entstand – vor allem in Mittel- und Osteuropa sowie auf dem Balkan – eine neue Landkarte mit neuen Nationalstaaten und neuen ethnischen Minderheiten. Nicht nur freiwillige Auswanderung war die Folge, sondern das folgenreiche Negativmodell der ethnischen Säuberung durch Aus- und Umsiedlung wurde geboren. Insgesamt waren etwa 6 Millionen Menschen von Zwangsumsiedlung, ethnischer Säuberung und Grenzveränderung betroffen.[8] Die wichtigsten Wanderungsbewegungen als Folge des 1. Weltkriegs:

über 1,5 Millionen Griechen wurden nach dem Friedensabkommen von Lausanne 1923 aus Kleinasien und aus der sogenannten Pontos-Region nach Griechenland ausgewiesen. Im Gegenzug mussten über 400.000 muslimische Türken, Pomaken und Roma Griechenland verlassen. Siehe dazu meinen Post 2.10Griechen, Griechenland, Zypern, griechische Minderheiten. Bereits 1919 hatten Griechenland und Bulgarien einen Bevölkerungsaustausch vereinbart. Siehe meinen Post 2.180Mazedonier, Slawo-Mazedonier – historische Region Mazedonien
Deutsche und deutsche Juden emigrierten teils freiwillig, teils gezwungen aus den neuen Nationalstaaten Polen, Tschechoslowakei, Rumänien und den baltischen Ländern sowie aus Elsass-Lothringen nach Deutschland und Österreich. Im Gegenzug wanderten viele Polen (Ruhr-Polen) aus Deutschland zurück in den wieder gegründeten polnischen Staat, aber auch in die nordfranzösischen Bergbaugebiete
Infolge der russischen Oktober-Revolution verließen etwas 1,5 Millionen Russen, Ukrainer und Weißrussen die neu gegründete Sowjet-Union[9]

3.4 Flucht, Vertreibung, Aus- und Umsiedlung nach  

      dem 2. Weltkrieg

Die Auswirkungen des 2. Weltkriegs und besonders die Beschlüsse der Alliierten von Teheran 1943, Yalta und Potsdam 1945 übertrafen alle bis dahin bekannten Migrationsbewegungen. Umsiedlungsaktionen hatten bereits nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 begonnen, mit dem sich die beiden Diktatoren zunächst ihre Interessengebiete gegeneinander abgrenzten. Hunderttausende Volksdeutsche aus Ostpolen, Rumänien und aus der Sowjet-Union wurden vor allem in die neue eroberten Gebiete in Polen (Warthegau und Westpreußen) umgesiedelt. Gleichfalls sollten in diesen eroberten Gebieten auch die Optanten für Deutschland aus Südtirol angesiedelt werden. (siehe meine Posts Südtirol/deutsche Südtiroler und Deutsche Volksgruppen in Rumänien). Mit dem Vordringen der sowjetischen Truppen begann die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung sowohl aus den Siedlungsgebieten außerhalb der alten Reichsgrenzen als dann auch aus den reichsdeutschen Gebieten östlich der Oder-Neisse-Linie. Diese neue Westgrenze Polens hatte Stalin als Ausgleich an den polnischen Staat  für verlorene Ostgebiete gefordert,  was von den West-Alliierten „blauäugig“ akzeptiert wurde. Der tiefere Grund war jedoch, den neuen polnischen Staat fest an die Sowjet-Union anzubinden. Tatsächlich lebte in den polnischen Ostgebieten jenseits der Curzon-Linie die polnische Volksgruppe neben  überwiegend Ukrainern und Weißrussen. Die genaue Zahl geflüchteter und vertriebener Reichs- und Volksdeutscher ist nur schwer zu bestimmen, da sich viele Schicksale überlagern. So sind bei der Flucht und Vertreibung ca. 1,2 bis 1,6 Millionen deutsche Menschen ums Leben gekommen.[10] Insgesamt schätzt man, dass bis zu 17 Millionen Deutsche aus den deutschen Ostgebieten und den deutschen Siedlungsräumen im Osten geflüchtet sind, vertrieben oder ausgesiedelt wurden oder auf der Flucht und in russischen oder polnischen Lagern umkamen. 12 – 13 Millionen fanden eine neue Heimat in der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR. Allein in den von Polen übernommenen Ostgebieten wohnten 1945 ca. 9 Millionen Deutsche. Hinzu kommen aus der Tschechoslowakei ca. 3 Millionen Sudeten- und Karpathen-Deutsche[11] und weitere Volksdeutsche aus der Sowjet-Union, Jugoslawien u. a. Ossteuropäischen Staaten.
Nach 1950 kommen ca. 4 Millionen sogenannte Spätaussiedler, vor allem aus Polen, den Staaten der Sowjet-Union  und Rumänien hinzu – siehe dazu meine Posts Russlanddeutsche und Deutsche Volksgruppen in Rumänien- die auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik eine neue Heimat suchten und fanden. Nicht zu vergessen sind die Fluchtbewegungen aus der DDR in die Bundesrepublik.
Neben der großen Zahl deutscher Migranten sind aber auch die Umsiedlungen der Polen (aus den vor 1939 polnischen Gebieten, die nun zu den Sowjet-Republiken Ukraine und Weissrussland gehörten) und aus Innerpolen zu erwähnen, die durchaus nicht immer freiwillig in den neuen Westgebieten Polens angesiedelt wurden.
Große Migrationsbewegungen waren auch die Folge der Entlassung ehemaliger europäischer Kolonialgebiete in die Unabhängigkeit. Insbesondere Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Belgien hatten eine große Zahl von Zuwanderern aus ihren ehemaligen Kolonien zu verzeichnen und waren im Europa der Nachkriegszeit die ersten Staaten mit Problemen der Integration von Angehörigen fremder Kulturen.
Am 20. Dezember 1955 schloss Deutschland ein Anwerbeabkommen mit Italien. Italienische Einwanderer waren somit die ersten, die Mitte der 1950er Jahre als "Gastarbeiter" in die Bundesrepublik kamen. Für Deutschland war es der Startschuss auf dem Weg in ein Einwanderungsland. Es folgten Abkommen mit Spanien, Portugal, Griechenland, dem früheren Jugoslawien und der Türkei. Alle, die damals in unser Wirtschaftswunderland kamen, hatten einen festen Arbeitsplatz sicher und bereiteten der deutschen Gesellschaft kaum Probleme, denn man sah in ihnen ja Gastarbeiter auf Zeit. Deshalb wurden auch keine Anstrengungen im Hinblick auf ihre Integration unternommen, im Gegenteil sie wurden darin bestärkt, ihren eigenen Lebensstil zu bewahren, auch als ihre Familien nachgeholt und Gastarbeiter-Kinder in Deutschland geboren wurden. Man gab sich über Jahrzehnte der Illusion hin, die Gastarbeiter würden ja wieder in ihre Heimat zurückziehen. Aber sie blieben und so wurden aus Gastarbeitern Einwanderer auf Dauer. Heute, zwei Generationen später, haben von 82 Millionen Menschen in Deutschland ca. 17 Millionen (einschließlich der Spätaussiedler – s. o.) eine Zuwanderungsgeschichte, das sind über 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Von diesen 17 Millionen stellen Zuwanderer aus der Türkei und ihre Nachkommen mit ca. 3 Millionen nach den Spätaussiedlern die größte Gruppe mit z. Zt. auch den größten Problemen. Ihnen habe ich nachstehend unter 5.3 ein eigenes Kapitel gewidmet.
 
In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts kam es infolge der Kriege in Ex-Jugoslawien zur Flucht und Vertreibung vor allem von Menschen aus Bosnien und dem Kosovo (Siehe dazu meine Posts Serbien - Montenegro - Bosnien und Kosovo, Kosovo-Albaner). Obwohl diese sich z. T. sehr gut integrierten, müssen sie nun Deutschland wieder verlassen, weil ihre Herkunftsländer zu sicheren Staaten erklärt wurden.

3.5 Neue Migrationsbewegungen im 21. Jahrhundert

Kriege in Afghanistan, im Libanon, Palästina, Irak und Syrien, Kriege, Bürgerkriege und Hungersnöte in Afrika und Asien und eine große Zahl von sogenannten „Wirtschafts-Flüchtlingen“ aus Ost- und Südeuropa, aber auch aus Süd- und Mittelamerika (die in die USA einwandern wollen), bestimmen die Diskussion der ersten Jahre dieses Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag. Einen guten Überblick gibt der Atlas über Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Minas) und der Migrationsbericht 2015 des gleichen Bundesamtes[12]
 
Populistische Parteien haben großen Zulauf bekommen, weil sie mit vermeintlich einfachen Lösungen die Probleme angehen wollen. Dabei werden diffuse Ängste in der Bevölkerung geschürt, ohne die tatsächlichen Fakten zu berücksichtigen. (siehe weiter unten unter Integration, Assimilation und…)  Zu bedenken ist aber auch, dass bei vielen Europäern Ängste vor Überfremdung und unsicheren Arbeitsplätzen herrschen. Schließlich muss man realistisch anerkennen, dass die europäischen Staaten nicht grenzenlos aufnahmefähig sind. Allerdings ist umstritten, wo die Grenzen der Belastbarkeit liegen. Siehe dazu weiter unten die Ausführungen zur Integration.
Tatsächlich sind die Probleme viel komplexer. Die Probleme mit Zuwanderern aus ärmeren europäischen Ländern werden in der Rückschau als gelöst oder lösbar erscheinen. Demgegenüber ist die Migration aus dem nahen Osten und Afrika in ihrer Dynamik nur zu lösen, wenn die „reichen“ Staaten des Nordens ihrer Verantwortung für den lange von ihnen wirtschaftlich ausgebeuteten Süden besser gerecht werden. Das gleiche gilt für das Verhältnis der reichen nordamerikanischen Staaten zu den lateinischen Staaten in Mittel- und Südamerika. Das ist leichter gesagt als getan. Aber unbestritten reichen die bisher aufgewandten Mittel der Entwicklungshilfe bei weitem nicht aus, will man die Probleme vor Ort wirksam angehen. Sicher müssen die Gelder der Entwicklungshilfe auch effizienter eingesetzt und kontrolliert werden. Und nicht zuletzt müssen neue Handelsregeln vereinbart werden, damit nicht durch billige Exporte aus Europa die Wirtschaft vor Ort in den Entwicklungsländern ruiniert wird. Wenn dies nicht geschieht, wird sich zwangsläufig der Druck auf die Festung Europa noch weiter verstärken. Nicht zuletzt deshalb ist es erforderlich, die Fakten besser zu kennen und sich damit auseinander zu setzen.

4. Integration

4.1 Definition – Was ist Integration?

Integration ist die Eingliederung von Migranten (Fremdnationalen, Minderheiten) in den Gesamtzusammenhang eines offenen und pluralen gesellschaftlichen Systems.[13]
Der Begriff Integration ist aber nicht so eindeutig, wie vorstehend formuliert. Man muss sich bewusst machen, dass Integration ein (meist längerer) Prozess ist, dessen Ablauf von den kulturellen Prägungen der Migranten, wie auch der politischen Grundhaltung der Aufnahmeländer abhängt. Integration ist daher ein Oberbegriff, der zu definieren ist, denn sein Gebrauch impliziert in der Öffentlichkeit „stets zugleich Bewertungen und Erwartungen, in welcher Weise und in welche Richtung die Integration von Immigranten zu verlaufen hat“ (Aumüller 2009). Oft wird der Begriff verwendet, wenn eigentlich Assimilation gemeint ist.[14]
Wie diffus der Begriff Integration benutzt wird, zeigt z. B. die bekannte Rede des türkische Ministerpräsidenten Erdogan bei einer Kundgebung am 10. 2. 2008   in Köln. Dabei rief er seine Landsleute in Europa auf, weiterhin ihre türkische Kultur zu bewahren und sich keiner Assimilation zu unterwerfen, denn diese sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In der gleichen Rede forderte er aber auch, dass türkische Kinder schon im frühen Alter, noch vor dem Schulbesuch, beginnen sollten, die Sprache des jeweiligen Aufnahmelandes zu erlernen, um nicht in eine Situation der Benachteiligung zu fallen.[15] Damit hat er jedoch gleichzeitig – wenn auch ungewollt – zur Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelandes aufgerufen, denn die Beherrschung der Sprache und gleichberechtigte Teilnahme am Arbeitsleben sind wichtige Voraussetzungen zur Integration, wie wir nachstehend sehen.

4.2 Systemintegration und Sozialintegration

Hartmut Esser gilt als einer der führenden deutschsprachigen Soziologen, der sich intensiv mit dem Thema Integration beschäftigt hat.[16]  Esser übernimmt eine These des britischen Soziologen David Lockwood die klarstellt, dass zwei verschiedene Sichtweisen des Integrationsbegriffes zu unterscheiden sind, die, wenn man sie nicht auseinander hält, leicht zu Verwirrungen führen können. Denn man kann bei der Erörterung der Integration den Blick vornehmlich auf das gesamte System der Gesellschaft richten,  oder aber auf die einzelnen Akteure beziehungsweise einzelne Gruppen. Daraus resultiert die Unterscheidung von Systemintegration und von Sozialintegration.

4.21 Systemintegration

Die Systemintegration bezieht sich auf die Integration in das System einer Gesellschaft als Ganzheit. Dabei wird der Integrationsbegriff nicht mehr nur einseitig auf Migranten und deren Nachkommen bezogen, sondern auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet. Integration wird dabei auch zur Aufgabe der gesamten Bevölkerung, für die der Staat die Strukturen bereitstellen muss. Ziel ist es, das politische System zu einer Strukturveränderung zu führen, die Diskriminierung und gesellschaftliche Ungleichheit überwindet und dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Die Migrationsforscher Klaus J. Bade und Michael Bommes haben bereits 2004 für den damaligen Zuwanderungsrat Integration folgendes definiert: Integration ist die messbare Teilhabe aller an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, das heißt an Erziehung, Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Recht, Sozialem bis hin zur politischen Partizipation.[17]  Bei der Systemintegration hat zunächst vor allem der Staat eine Bringschuld. Er muss den gesetzlichen Rahmen schaffen und auch die nötigen Mittel bereitstellen, dass eine gleichberechtigte Teilhabe der Migranten am gesellschaftlichen Leben möglich ist. Er fordert aber auch die aufnehmende Gesellschaft heraus, die Integration immer noch vor allem als Anpassung von Migranten versteht. Dies hängt in Deutschland vor allem damit zusammen, dass man bis zur Jahrtausendwende nicht akzeptieren wollte, dass Deutschland zum Einwanderungsland wurde.  Es hängt auch mit der deutschen Betrachtungsweise zusammen, dass man Deutscher nur sein, aber nicht werden könne. Auch die Ansicht, dass Migranten nur Gastarbeiter auf Zeit sind, hat sich sehr lange in deutschen Köpfen festgesetzt. Durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 hat der deutsche Staat hier einen Paradigmenwechsel vollzogen, der in weiten Teilen der Bevölkerung jedoch noch nicht angekommen ist.[18] (siehe weiter unten unter Assimilation und Multikulturalismus)

4.22 Sozialintegration

Meist ist im Zusammenhang mit der „Integration“ von Migranten und fremdethnischen Gruppen die Sozialintegration gemeint: Der Einbezug der Akteure in das gesellschaftliche Geschehen, etwa in Form der Gewährung von Rechten, des Erwerbs von Sprachkenntnissen, der Beteiligung am Bildungssystem und am Arbeitsmarkt, der Entstehung sozialer Akzeptanz, der Aufnahme von interethnischen Kontakten und Freundschaften, der Beteiligung am öffentlichen und am politischen Leben und auch der emotionalen Identifikation mit dem Aufnahmeland. Hartmut Esser unterscheidet bei der Sozialintegration der Akteure vier Dimensionen: Kulturation, Plazierung, Interaktion und Identifikation, wobei die Identifikation in unterschiedlichen Graden der „Hingabe“ an das soziale System vorkommt. Im einzelnen versteht Esser darunter:
Kulturation: Erwerb von Wissen, Kompetenz und Humankapital – Voraussetzung = Erwerb von Sprachkompetenz
Plazierung: gewährte Rechte in Anspruch nehmen, Positionen besetzen, Akzeptanz erfahren, ökonomisches, institutionelles oder politisches Kapital entwickeln
Interaktion: Netzwerke entwickeln, Positionen besetzen und dabei Anerkennung erfahren, kulturelle und soziale Kompetenz entwickeln, z. B. in Sportvereinen, im kulturellen Bereich u. a.
Identifikation: Werte des Aufnahmelandes anerkennen und dafür einstehen, Bürgersinn entwickeln, negative Fakten hinnehmen.  Identifikation mit der politischen Gemeinschaft, mit den politischen Werten ihrer Verfassung, Rechtsordnung und den politischen Institutionen.
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Einbettung in eine als erfreulich erlebte und auch sonst interessante soziale Umgebung. Dazu aber kann es nur kommen, wenn die erforderlichen kulturellen Fertigkeiten, insbesondere sprachlicher Art, beherrscht werden und wenn die entsprechenden Kontakte auch von den möglichen Partnern als interessant erlebt werden können.[19]
Oft wird der Begriff Sozialintegration verwendet, wenn eigentlich Assimilation gemeint ist. In einem Rechtsstaat ist vollständige (Sozial-) Integration jedoch auch ohne vollständige Assimilation durchaus möglich. Gemeint ist der Zustand einer Gesellschaft mit einem möglichst geringen Grad an gesellschaftlichen Konflikten, in einem Staat, in dem die Einhaltung der Menschenrechte gesichert ist und allen Bürgern die gleichen Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe gewährleistet werden. In einem solchen Rechtsstaat muss kein Bürger - auch keine soziale, ethnische oder religiöse Gruppe (Minderheit) - Diskriminierungen befürchten und jeder Migrant wird als gleichberechtigter Bürger in der Aufnahmegesellschaft akzeptiert. Wer allerdings die Verfassungs- und Rechtsnormen dieses Staates verletzt (z.B. als fundamentalistischer Terrorist), den muss auch die Bestrafung des Rechtsstaates in vollem Umfang treffen. Eine besondere Identität (ethnischer oder religiöser Art) wird jedoch von allen Teilen der Gesellschaft (zumindest der großen Mehrheit) respektiert und sogar von vielen als Bereicherung empfunden. (siehe weiter unten unter Assimilation und Multikulturalismus)

4.3 Assimilation oder multiethnische Gesellschaft?

In den „klassischen“ Einwanderungsländern, wie die USA, Australien, Israel und zunächst auch Kanada, war lange Zeit das Konzept der Assimilation selbstverständlich. Vorstellungen eines multikulturellen Nebeneinanders der Gruppen waren allenfalls als Übergangsstadien gedacht. Inzwischen hat aber auch in diesen Ländern ein Umdenken stattgefunden, auch wenn immer wieder um Lösungen politisch gerungen wird. In Deutschland und Westeuropa war bis in die 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts Konsens, dass sich Zuwanderer nicht nur sozialökonomisch, sondern auch kulturell und religiös weitgehend an die Wertvorstellungen und Verhaltensnormen der Mehrheitsgesellschaft anzupassen haben. In Westeuropa ist die Assimilation – historisch betrachtet – der erprobte und gewissermaßen „erwartete“ Fall. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Erkenntnis gewachsen, dass erhebliche Konflikte entstehen, wenn man nicht unterscheidet zwischen sozial-ökonomischen Formen der Anpassung, die notwendig +und kulturell-religiösen Prägungen, die zu tolerieren sind.
Will man systematische und dauerhafte Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft vermeiden, kommt als vertretbares Konzept der Beziehungen zwischen Migranten und Einheimischen wohl nur die Systemintegration in Frage. Dann muss man aber entscheiden, ob dies unter ethnischer Heterogenität oder Homogenität geschehen soll oder wird. Es ist die Frage nach einer Integrationspolitik, die entweder am Konzept der Assimilation festhält oder an dem einer multiethnischen Gesellschaft orientiert ist. Die Bedingungen der Systemintegration sind im vorhergehenden Abschnitt beschrieben, sie umfassen vor allem: das Erlernen und die Verwendung der Landessprache in der Öffentlichkeit, das Recht und die Pflicht zur schulischen Ausbildung, das Erlernen gängiger Berufe und deren Ausübung, die weitgehende Übernahme landesüblicher Umgangsformen und darüber hinaus die Übernahme von Bildungs- und Wohlstandsidealen sowie in der Folge eine zunehmende Identifikation mit dem Aufnahmeland. [20]
Daher ist es notwendig sich mit beiden Konzepten näher auseinander zu setzen und vor allem zu fragen, ob sie in ihrer ursprünglich gedachten Form heute überhaupt noch umsetzbar sind.

4.31 Assimilation

Assimilation bezeichnet in der Soziologie das Einander-Angleichen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen (bis hin zur Verschmelzung) und ist demnach ein Prozess des Kulturwandels.[21] Der Begriff kommt von lateinisch: ähnlich machen und ist zumeist ein von selbst erfolgender, häufig mit staatlichen Mitteln geförderter, oft auch gewaltsam erzwungener Prozess der Aufnahme von (rassischen, sprachlichen, konfessionellen) Minderheiten in eine bisher fremde Mehrheit.[22] Sie bedeutet eine einseitige Anpassung einer Minderheit an ihr soziales Umfeld und im weiteren Verlauf ein Aufgehen in der Mehrheit durch biologische Vermischung.
Nach Hartmut Esser ist der Begriff Assimilation nicht eindeutig und wirft viele Fragen auf. Denn im Gegensatz zu der Situation in den frühen Einwanderungsstaaten (Nordamerika, Australien) haben wir in Europa in langen geschichtlichen Prozessen gewachsene Gesellschaftsstrukturen. Die Mehrheitsgesellschaft zeigt hier Abwehrreaktionen, zum Teil aus Angst vor Wettbewerb um Arbeitsplätze mit der zugewanderten Gruppe, zum Teil aber auch aus diffusen Ängsten vor dem Ansteigen der Kriminalitätsrate und einer Überfremdung. Von Einzelpersonen und relativ kleinen Zuwanderergruppen wird diese Haltung der Aufnahmegesellschaft in der Regel akzeptiert, da für sie trotzdem eine Verbesserung zu der Situation im Herkunftsland empfunden wird und sich kleine Gruppen oder Einzelpersonen von Migranten relativ machtlos fühlen. Eine solche Situation beschleunigt natürlich die Assimilation. Bei größeren Migrantengruppen führt die Abwehrreaktion der Mehrheitsgesellschaft jedoch dazu, dass sich Migranten gleicher ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit in Vereinen, Organisationen und vor allem religiösen Zentren zusammenfinden. Dabei betonen sie häufig ihr ethnisches oder religiöses Anderssein mehr, als in ihrem Heimatland oder kurz nach der Ankunft im Aufnahmeland. Das führt wiederum zu einer erhöhten Sichtbarkeit der migrantischen Gruppe, was zu einer verstärkten sozialen Differenzierung führt. Dies beobachten wir z. Zt. In Deutschland bei vielen Türken bzw. Deutschtürken der zweiten und dritten Generation.
Assimilation kann hier – wenn überhaupt – nur in sehr langen Prozessen über mehrere Generationen erfolgen. Eine Beschleunigung kann jedoch durch bessere Bildung, Teilhabe und Anerkennung in Organisationen der Mehrheitsgesellschaft oder auch bei Heirat mit einem Partner des Aufnahmelandes und die folgende Familien-Integration erfolgen.
Das Konzept der Assimilation steht zum Begriff der Integration in einem besonderen Verhältnis. Oft werden beide Begriffe gleich gesetzt, was jedoch nicht zutrifft. Integration im Sinne der oben beschriebenen Sozialintegration bedeutet eben nicht die spurenlose „Assimilation“ von Migranten und ethnischen Minderheiten.
Mit der Unterscheidung der vier Dimensionen der Sozialintegration laut Esser: Kulturation, Plazierung, Interaktion und Identifikation, lassen sich auch die vier Dimensionen der Assimilation auseinanderhalten. Dies sind die kulturelle, strukturelle, soziale und Identifikations-Assimilation. Die kulturelle Assimilation bedeutet die Angleichung im Wissen und in den Fertigkeiten, insbesondere in der Sprache; die strukturelle Assimilation die Besetzung von Positionen in den verschiedenen Funktionssystemen, etwa im Bildungsbereich und vor allem auf dem Arbeitsmarkt, sowie die Inanspruchnahme bestimmter Rechte; die soziale Assimilation die Angleichung in der sozialen Akzeptanz und in den Beziehungsmustern, etwa im Heiratsverhalten; und die emotionale (oder „identifikative“) Assimilation, die Angleichung in der gefühlsmäßigen Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft.
Bei der Betrachtung der Assimilationstheorien kommt man an dem amerikanischen Soziologen Milton M. Gordon nicht vorbei, der 1964 seine Theorie der Kulturellen und strukturellen Assimilation aufstellte.
Obwohl Gordon vom amerikanischen Beispiel ausging, ist es ihm gelungen, eine Theorie zu entwickeln, die sich auf andere Fälle übertragen ließ und sich in Einzelstudien bewährt hat. Er unterteilte den Prozess der Assimilation in sieben Stadien, die in der nachstehenden Tabelle dargestellt werden:


Tabelle 1: Die sieben Teilprozesse der Assimilation nach Milton M. Gordon (übernommen von Petrus Han in: Soziologie der Migration, Stuttgart: Lucius & Lucius, 2005, S. 58)
Subprozesse bzw. Bedingungen
Teilprozesse der Assimilation
engl. Bez. nach Milton M. Gordon
Wandel der kulturellen Verhaltensmuster in Richtung auf Angleichung 
mit der Aufnahmegesellschaft
Kulturelle oder verhaltens-mäßige Assimilation - Akkulturation cultural assimilation - acculturation
Eintritt in Cliquen, Vereine und Institutionen der Aufnahmegesellschaft 
auf der Basis der Primärbeziehungen
Strukturelle Assimilation structural assimilation
Entstehen interethnischer Heiratsmuster eheliche Assimilation marital assimilation
Entwicklung des Zugehörigkeitsgefühls zur Aufnahmegesellschaft Identifikation mit der Mehrheitsbevölkerung identificational assimilation
Fehlen von Vorurteilen Übernahme von Einstellungen Attitude receptional Assimilation
Fehlen von Diskriminierungen Übernahme von Verhaltensweisen Behavioral receptional Assimilation
Fehlen von Wertkonflikten und Machtkämpfen Zivile Assimilation - Assimilation als Voll-Bürger civic assimilation

Schließlich sei noch auf die Assimilationstheorie von Robert E. Park und Ernest W. Burgess, zwei amerikanischen Soziologen von der so genannten Chikagoer Schule hingewiesen. Nach dieser Theorie vollzieht sich  die Assimilation in einem Zyklus von 5 Phasen (Kontakt, Wettbewerb, Konflikt, soziale Anpassung (Akkomodation), Assimilation. Entscheidend im Prozess der Assimilation ist die Akkomodationsphase. Sie bezeichnet die soziale Anpassung, die im Laufe der sozialen Interaktion als Erfahrung von jedem selbst persönlich gesammelt wird. Laut Park und Burgess bemerken Personen in dieser Phase den langsamen Prozess der Assimilation nicht bewusst. Die letzte Phase kann schnell oder weniger schnell erreicht werden, dies ist sehr abhängig von den ersten sozialen Kontakten, umso intensiver diese zwischen den Gruppen sind, desto schneller passiert die Assimilation. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist die Beherrschung einer gemeinsamen Sprache. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist Ziel dieser Phase. Assimilation bedeutet letztlich, man will in der Gegenwart leben und nicht in der Vergangenheit, nicht in Erinnerungen an die Herkunftsgesellschaft.[23]

4.32 Multiethnische Gesellschaft

Als Alternative zur Assimilation wird der Multikulturalismus gesehen bzw. eine multiethnische oder multikulturelle Gesellschaft. In der Idealvorstellung bedeutet dies ein friedliches Nebeneinander ethnisch verschiedener Gruppen in einem gemeinsamen Staat, was sowohl den Interessen der Migranten entgegenkommt wie auch zu einer kulturellen Bereicherung der Aufnahmegesellschaft führen wird – zumal es in diesem Rahmen jedem frei steht, auch den oft mühsamen Weg der „Assimilation“ dennoch zu gehen, wenn man das für angeraten ansieht.[16]
Eine multikulturelle Gesellschaft wurde in der Vergangenheit besonders in Deutschland und Österreich heftig bekämpft. Dabei wurde aber übersehen, dass es auch bei uns eine homogen kulturelle Gesellschaft niemals gab, denken wir nur an die verschiedenen deutschen Identitäten in Nord und Süd, Ost und West, die Unterschiede der christlichen Bekenntnisse, die wiederum unterschiedliche Identitäten hervorgebracht haben. Schließlich gab es auch in der Vergangenheit immer wieder Zuwanderungsprozesse, angefangen mit Hugenotten und vor allem im Zeitalter der schnell wachsenden Industrie und des Bergbaus im Ruhrgebiet. In meinem Post "Polen in Deutschland - Ruhrpolen" habe ich die Integrationsprobleme bei den zugewanderten Ruhrpolen in den Jahrzehnten vor dem 1. Weltkrieg geschildert. Heute werden diese oft als Musterbeispiel der Integration angeführt, was jedoch die tatsächlichen historischen Abläufe völlig verkennt. Demgegenüber kann man jedoch die nach 1950 aus Polen und den ehemaligen deutschen Ostgebieten zugewanderten Migranten mit polnischer Muttersprache als sehr gut in Deutschland integriert  bezeichnen.
Tatsächlich sind auch Zuwanderer aus den gleichen Staaten oder Regionen keineswegs immer eine homogene Gruppe. Denken wir in Deutschland z. B. an die Unterschiede zwischen Spätaussiedlern aus Polen und Russland, die in der Fremde ihre deutsche Identität behalten und verteidigt haben und  Zuwanderern aus den gleichen Staaten mit polnischer oder russischer Muttersprache und kultureller Bindung. 
Eine offensichtliche Differenz besteht zwischen Zuwandern aus dem christlich geprägten Europa und der vom Islam geprägten Türkei und neuerdings den Staaten des nahen und mittleren Ostens, aus Nord- und Zentral-Afrika. Aber auch Zuwanderer aus der Türkei sind keineswegs nur ethnische Türken, sondern auch Kurden, nicht nur sunnitische Muslime, sondern auch Aleviten.(siehe dazu die Ausführungen unter nachstehenden Punkten 5.31 und 5.32)
Auch der Aspekt der Bereicherung einer Gesellschaft durch Zuwanderung wird oft nicht gesehen. Denken wir nur daran, dass wir Deutschen heute eine völlig andere, vielfältigere Esskultur haben als noch vor einigen Jahrzehnten, dass wir gerne zum Italiener, Griechen, Kroaten usw. zum Essen gehen und Döner ebenso geschätzt werden, wie Gyros, Pizza, Tappas, Espresso und  südeuropäische Weine.
Befürchtet werden bei der Zuwanderung größerer Migrantengruppen die Entstehung von Parallelgesellschaften, wie sie sich vor allem in den s. g. Arrival Cities“ zeigen. Gemeint sind damit die Ankunftsorte, wo sich die Migranten ansiedeln, weil dort bereits Landsleute ansässig sind, die Hilfestellung bei Sprachschwierigkeiten, Behördengängen und der Wohnungssuche geben können und so den Start in eine neue Zukunft unterstützen. Diese Ankunftsorte sind häufig Stadtviertel, in denen der Wohnraum preiswert ist, die aber als Problemviertel gelten und deshalb in die Schlagzeilen der Presse geraten. Doch der weltweit anerkannte Migrationsexperte, der Kanadier Doug Saunders macht Mut. Seine Recherche zur Migration in Europa zeigt, dass Einwanderung immer auch große Chancen für Zuwanderer und Einwohner birgt – vorausgesetzt, die Migranten finden dort Bedingungen vor, die es ihnen ermöglichen, selbst aktiv zu werden, Bürgerrechte, Bildungschancen und soziale Aufstiegschancen wahrzunehmen. Wenn die Ankunftsorte zumindest der zweiten Generation diesen Aufstieg durch erworbene Bildung und Ausbildung, die Möglichkeit der Existenzgründungen, beginnend mit Kleinunternehmen, ermöglichen, dann entwickeln sich diese Stadtviertel häufig zu angesagten Szenevierteln und beliebten Wohngegenden für die Mittelschicht. Als Beispiel nennt er Berlin-Kreuzberg.[24]
 
Wenn die vorgenannten Voraussetzungen allerdings nicht vorhanden sind bzw. von Staat und Gesellschaft nicht oder nur unzureichend gewährt werden, können diese Ankunftsorte auch zu dauernden Problemvierteln werden, wie z. B. die Vororte bzw. Trabantenstädte im Umfeld von Paris, wo bis zu 50% Jugendarbeitslosigkeit herrscht und Jugendliche ohne Perspektive dann auch zu Gewalt und Krawallen neigen – häufig ein Notruf ! Dann kann es in solchen Vierteln zur sogenannten Segmentation kommen, d. h. zur Ausbildung ethnischer Gemeinden und Kolonien. Diese erschweren oder verhindern die strukturelle Sozialintegration bzw. die strukturelle Assimilation der Migranten. Segmentation findet aber auch über „Arrival Cities“ hinaus statt, denn früher oder später erfolgt die Organisation ethnisch oder religiös gleicher Migranten in Vereinen und Organisationen verschiedenster Art (z. B. religiöse Kultstätten, Sportvereine, Volkstanzgruppen, Büchereien u. a., später auch Dachorganisationen mit dem Anspruch ethnische oder religiöse Gruppen im Aufnahmeland zu vertreten). Die Bildung religiöser Organisationen mit entsprechenden Räumen zur Ausübung religiöser Kulte, aber auch als Treffpunkt zum Austausch von Erfahrungen und Meinungen, sind dabei von besonderer Bedeutung, weil sie im Unterschied zu anderen Organisationsformen ein größeres Beharrungsvermögen haben und auf Dauer angelegt sind.
Segmentation kann für Migranten der ersten Generation bedeutsam sein, weil sie in ethnischen Gemeinden Entlastung von dem Druck der Migrationssituation finden, da diese sie auffangen und ihnen eine vertraute Umgebung und Schutz vor belastenden Alltagssituationen im Aufnahmeland bieten können. Doch mit zunehmender Größe und Vielfalt der ethnischen Gemeinde kann es zu einer institutionellen Vollständigkeit kommen, die die Segmentation dauerhaft verfestigt. Wenn sich der gesamte Alltag in der ethnischen Gemeinde abspielt und bewerkstelligen lässt, gibt es für Migranten kaum Anlass, sich in die Aufnahmegesellschaft sozial zu integrieren. Auch ist in derartigen von einer Migrantengruppe geprägten Stadtteilen die soziale Kontrolle größer, ähnlich der Situation in vielen deutschen Dörfern noch vor wenigen Jahrzehnten. (Wer geht zur Kirche bzw. in die Moschee? Welche Frau trägt kein Kopftuch? Wer nimmt es mit dem Fasten nicht so genau?) Dieser Teufelskreis kann nur durchbrochen werden, wenn der Staat ein gutes Angebot vorschulischer und schulischer Bildung, aber auch der Erwachsenenbildung anbietet und sich dadurch die Chancen von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Aber auch Angebote zur sportlichen und musischen Betätigung durch die jeweilige Kommune, durch örtliche Vereine und die örtliche Zivilgesellschaft helfen Migranten und Migrantinnen sich besser zu integrieren.

4.33 Mischformen und Übergangsstufen zwischen 

Multiethnischer Gesellschaft und Assimilation - neue 

Minderheiten


Aus den Grenzregionen des deutschen Volkes kennen wir den Begriff des „schwebenden Volkstums“ (z. B. in Oberschlesien, im Elsass und Lothringen, in Südkärnten – siehe dazu meinen Post Volk,Nation, Staat – Definition der Begriffe ). Eine ähnliche Situation finden wir auch bei Migranten, insbesondere bei der 2. und 3. Generation. In Deutschland kennen wir dazu viele Beispiele, z. B. bei jungen Deutschtürken, aber auch bei Spätaussiedlern aus Russland. Sehr schöne Beispiele bringt dazu das Jugendmagazin „Fluter“ der Bundeszentrale für politische Bildung – bpb -Heft Nr. 61 / Winter 2016-2017.  Einem jungen Russlanddeutsche wird seine deutsche Identität bewusst, als er bei einer Zugfahrt durch Russland erfährt, wie man Ihn als Deutschen bezeichnet und für deutsche Politik verantwortlich macht.
Deshalb kann ich dem bekannten Migrations- und Integrationsforscher Klaus J. Bade nur zustimmen, wenn er schreibt: „Es gibt bei Fragen der Integration keine maßgeschneiderten Lehren der Geschichte. Die Integrationsgeschichte ist kein Steinbruch mit passgerechten Antwortblöcken für Fragen der Gegenwart, aber sie lehrt das Gebot der Geduld. Man sollte lernen, heute laufende Integrationsprozesse ...als lange dauernden, mitunter intergenerativen Kultur- und Sozialisationsprozess zu verstehen.[25]
Ich möchte daher zwei weitere Begriffe meines schon erwähnten Posts Volk,Nation, Staat – Definition der Begriffe aufgreifen: Staatsnation und Kulturnation, denn ich glaube, wir sollten auch über einen neuen Inhalt dieser heute etwas außer Mode gekommenen Begriffe nachdenken. Statt dieser Begriffe kann man auch unterscheiden zwischen loyalen Bürgern eines Staates (einer Staatsnation) und Angehörigen einer Sprach- und Kulturgemeinschaft (Kulturnation)
 
Ein Migrant aus der Türkei, vom Balkan, aus dem nahen Osten oder aus Schwarzafrika wird sich möglicherweise im laufe seines Lebens soweit integrieren, dass er ein bewusster deutscher (oder französischer u. a.) Staatsbürger wird, die Sprache seines Aufnahmelandes befriedigend bis gut beherrscht und sich mit diesem weitgehend identifiziert. Er wird dennoch niemals ein ethnischer Deutscher, der mit der deutschen Kultur und Lebensart voll verwachsen ist. Etwas anders sieht es bereits bei der nachfolgenden Generation aus. Hier haben es Zuwanderer aus Europa wesentlich leichter, sich zu integrierenoder sogar zu assimilieren, als außereuropäische Migranten mit anderer Religion, anderen Wertvorstellungen und anderen Lebensgewohnheiten. Die Familienbindung und evtl. auch die Wohnsituation (s.o. Segmentation) verzögern dann die Integration – möglicherweise sogar auf Dauer. Zur Klarstellung möchte ich aber ausdrücklich betonen, dass ich nicht der Meinung bin, den früher gebrauchten Rassebegriff als Identitätsfaktor neu zu beleben. Im Gegenteil: Das Kind eines Schwarzafrikaners und einer deutschen Mutter, das in einer deutschen Umgebung aufwächst und Deutsch als Muttersprache spricht ist für mich ethnisch deutsch. Die Hautfarbe ist kein Unterscheidungsmerkmal mehr, von dieser überholten Vorstellung müssen wir uns verabschieden. Die besonderen Merkmale des deutschen Volkes habe ich in meinen Posts Das Deutsche Volk in Europa und die Deutsche Sprache beschrieben.
Bisher haben wir den Begriff Kulturnation im deutschen und osteuropäischen Raum stets so verstanden, dass damit zum einen die in den deutschen (oder z. B. ungarischen) Staaten lebenden Bürger und die außerhalb dieser Staaten lebenden deutschen (oder z.B. ungarischen) Minderheiten gemeint waren. Zwar gab und gibt es auch in Deutschland (Ungarn) Minderheiten, die also nicht zur deutschen (oder anderen) Kulturnation gehören. Deren Größe war aber nicht so dominant, dass sie das Bild von einer weitgehend geschlossenen Zugehörigkeit zur (deutschen) Kulturnation störten, zumal sich z. B. die Sorben in Deutschland auch der deutschen Kultur verbunden fühlen.
Die neue Situation in Europa mit vielen Zuwanderergruppen führt mich zu der Erkenntnis, dass der Begriff Kulturnation bzw. Sprach- und Kulturgemeinschaft nun grenzenlos gedacht werden muss. Das bedeutet in der Praxis, dass auf dem Boden eines Staates (einer Staats-Nation) durchaus mehrere Kulturnationen leben können. In multiethnischen Staaten (wie Belgien oder der Schweiz) war dies bisher schon Realität, aber in anderen Staaten (besonders Frankreich und Großbritannien) ging man stets davon aus, dass jeder französische Bürger (Citoyen) ein Franzose war, auch wenn er einer ethnischen Minderheit (Bretonen, Korsen, Elsässer usw.) angehörte. Inzwischen toleriert man in Frankreich – wenn auch ohne rechtlich deutliche Konsequenzen die Existenz dieser besonderen Ethnien und hat dazu eine großen Anteil an Migranten (vor allem aus früheren Kolonien) mit eigener Identität. Umgekehrt fühlt man auch in Frankreich eine starke emotionale Bindung an ethnische Franzosen in der Wallonie, in der Welsch-Schweiz oder in Quebec.
Die Identifikation mit einer Kulturnation, einer Sprach- und Kulturgemeinschaft, ist stets ein individueller und über Staatsgrenzen hinaus gehender Akt, der zu akzeptieren ist, er darf vom jeweiligen Staat nicht hinterfragt, bestritten oder nachgeprüft werden. Die Organisation in entsprechenden Kultur-Organisationen darf nicht unterbunden, sondern muss vom Staat sogar gefördert werden. Diese Auslegung der nationalen Identität wurde in einer Vereinbarung zwischen der BR Deutschland und dem dänischen Staat hinsichtlich des Schutzes der beiderseitigen Minderheiten festgeschrieben und kann als Musterbeispiel einer gelungenen Minderheitenpolitik gelten. (siehe dazu meine Posts 2.052Die dänische Volksgruppe in Südschleswig und 2,01.10  Deutsche Nordschleswiger). Das Bekenntnis zu einer anderen Ethnie oder Kulturgemeinschaft, die Mitgliedschaft in deren Vereinen und Organisationen oder die Teilnahme an religiösen Kulten muss demnach nicht nur gestattet, sondern vom Staat ausdrücklich geschützt werden. Dieser Rechtsstaat kann dann aber auch eine loyale Haltung und Respektierung seiner gesetzlichen Grundlagen einfordern.

Die Erkenntnisse führen zwangsläufig zu der Frage "Wann werden aus Migrantengruppen neue Minderheiten?" Bisher machen die eurpäischen Staaten und Institutionen (wie der Europarat und die EU) noch den  Unteschied zwischen autochthonen und allochthonen Minderheiten, also
Alteingesessenen (wie z. B. Sorben und Friesen in Deutschland) und Migranten der letzten Jahrzehnte (wie z. B. Türken und Kurden in Deutschland). Wann wird aus letztgenannten eine neue Minderheit? Zweifellos kann man Migrantengruppen, die sich zwar in das System ihrer neuen Heimat eingegliedert haben, aber ihre besondere kulturelle Eigenheit weiter pflegen möchten, den Status einer anerkannten Minderheit auf Dauer nicht verweigern.In Schweden und Ungarn gibt es dazu einen pragmatischen Ansatz, den man ernsthaft bedenken sollte. Dort kann eine solche Migrantengruppe den Status einer nationalen Minderheit mit allen dazu gehörenden Rechten und Pflichten erhalten, wenn diese mehr als 100 Jahre im Lande gelebt hat und an einer eigenständigen Identität festhalten möchte.
[25a]

5. Besondere Integrationsprobleme in Deutschland

5.1 Staatsangehörigkeit und Gastarbeiter

Bis zum 1. 1. 2000 galt in Deutschland ein Staatsangehörigkeitsgesetz, das auf der Basis des Abstammungsprinzips (jus sanguinis) beruhte. Es ging von der Fiktion einer einheitlichen deutschen Leitkultur aus und der weiteren Fiktion, dass Deutsche von deutschen Eltern abstammen (dabei wurde der Begriff deutsch allerdings schon sehr weit gefasst, d. h. abweichend vom Territorium des deutschen Staates (oder deutscher Staaten) galten auch Volksdeutsche in diesem Sinne als Deutsche, ebenso deutsche Staatsbürger innerhalb der Grenzen des deutschen Reiches oder der Bundesrepublik (z. B. Elsässer vor 1918, heute Sorben, Friesen, Sinti und Roma, Slowenen in Kärnten u. a.). Alle deutschen Staaten hatten zudem schon immer eine sehr vielfältige, unterschiedlich ausgeprägte Kultur, die sowohl von der Religion/Konfession als auch der landsmannschaftlichen Prägung bestimmt war. Selbst die von Völkischen und Nazis ausgegrenzten deutschen Juden vor 1933 waren in ihrer übergroßen Mehrheit Teil des deutschen Volkes und der deutschen Kultur, sie wollten deutsch sein wie alle anderen Deutschen, ausgenommen ihrer Religion. Deshalb hat der Politikwissenschaftler Volker Heins von der Universität Bochum zu Recht festgestellt: "Es gibt keine monokulturellen Gesellschaften, es hat sie in der Weltgeschichte noch nie gegeben, der Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts hat uns sozusagen vorgetäuscht, dass es so etwas gibt wie eine Leitkultur, an der sich alle ausrichten." 
 
Dennoch hat man an dieser Fiktion lange festgehalten. Darauf beruht das lange Festhalten am Prinzip „Gastarbeiter“. Sowohl die Politik aber auch die Betroffenen gingen lange Zeit davon aus, dass „die Gastarbeiter“ der ersten Generation nach einigen Jahren, spätestens jedoch nach Erreichen des Rentenalters in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Als man seit Anfang der 80er Jahre feststellte, dass sich diese Erwartung nicht erfüllte, setzte die Politik noch eine Zeitlang auf freiwillige Rückkehranreize – ohne eine grundlegende Änderung der Situation zu bewirken.[26] Dass es so etwas wie die »Einheit der Verschiedenen« geben könnte, war den Deutschen unheimlich und dieses Gefühl ist leider bei vielen immer noch vorhanden. Interessanterweise ist es besonders dort ausgeprägt, wo es sehr wenige Migranten gibt und deshalb auch kaum Kontakte zu ihnen, wie in weiten Bereichen der ostdeutschen Bundesländer aber auch im Westen Deutschlands, vor allem in den ländlichen Räumen.
Dass Gastarbeiter nicht in ihre Heimat zurückkehrten, verdeutlicht z. B. die Tatsache, dass 76,9% der Personen mit türkischem Migrationshintergrund mindestens seit 20 Jahren, teilweise seit 40 Jahren in Deutschland leben. Ähnlich verhält es sich bei den „Gastarbeitern“ aus Italien, Kroatien und Griechenland.

5.2 Struktur der Migranten in Deutschland – Menschen mit Migrationshintergrund

Deshalb ist es sicher hilfreich, wenn wir uns in Deutschland bewusst machen, dass im Jahre 2015 von den 81,4 Millionen Einwohnern der Bundesrepublik 17,1 Millionen (= ca. 21%) Personen einen Migrationshintergrund im engeren Sinne hatten. Das Statistische Bundesamt definiert dabei Menschen mit Migrationshintergrund folgendermaßen: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.“ Diese Definition umfasst zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-)Aussiedler sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen dieser Gruppen.
Ende 2015 lebten insgesamt etwa 9,11 Millionen Menschen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Deutschland, davon stellten Staatsangehörige aus der Türkei mit 1,51 Millionen Personen (=16,5%) die größte ausländische Personengruppe. Die Zahl der türkischen Staatsangehörigen sank damit im Vergleich zum Vorjahr um etwa 21.000 Personen. Bereits in den Vorjahren war jeweils ein Rückgang der türkischen Staatsangehörigen zu verzeichnen. Die zweitgrößte Nationalitätengruppe bildeten die polnischen Staatsangehörigen mit 0,74 Millionen Personen (8,1%), vor Personen aus Italien mit 0,60 Millionen Staatsangehörigen (6,5%). Zu den weiteren quantitativ bedeutsamen Nationalitätengruppen zählen Staatsangehörige aus Rumänien mit 453.000 Personen (5,0%) und infolge der starken Zuwanderung  Schutzsuchende aus Syrien (367.000 Personen; 4,0%). Damit hat Syrien Griechenland (340.000 Personen; 3,7%) 2015 vom fünften Platz verdrängt. Hinsichtlich der vergleichsweise hohen Zahl polnischer Zuwanderer ist allerdings auf die Problematik der Spätaussiedler aus den deutschen Ostgebieten hinzuweisen, deren Eltern oder Großeltern Deutsche waren und in den Jahren nach Kriegende nicht geflüchtet sind oder vertrieben wurden.
Insgesamt wurden seit dem Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts (im Jahre 2000) 1.981.537 Personen in Deutschland eingebürgert. Eine größere Zahl davon konnte jedoch seine bisherige Staatsangehörigkeit zusätzlich beibehalten (doppelte Staatsbürgerschaft). Diese wird grundsätzlich allen Ausländern aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union und der Schweiz gewährt. Zudem Ausländern, in denen das Recht der Herkunftsstaaten ein Ausscheiden aus deren Staatsangehörigkeit nicht vorsieht oder stets verweigert.[27]
Wie wir an Hand der vorstehenden Zahlen sehen, ist Deutschland also längst ein Einwanderungsland bzw. ein Land mit einer multikulturellen Gesellschaft. Alte Muster der Identität und des deutschen Patriotismus treffen daher auf eine große Gruppe unserer Bürger nicht mehr zu. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten entwickelten daher Dolf Sternberger und Jürgen Habermas das Konzept des Verfassungspatriotismus als Antwort auf die besondere Situation der Bundesrepublik mit ihren vielen Zuwanderern. Sie plädierten dabei für die rationale Identifikation mit den universellen Werten und Prinzipien des Grundgesetzes als gemeinsame Basis aller deutschen Staatsbürger, Nur diese Form des Patriotismus sei in der Lage, in den durch Migration kulturell vielfältiger gewordenen Nationalstaaten eine gemeinsame Solidarität und kollektive Identifikation zu stiften. Hierüber gab es in Deutschland lange Debatten, die auch heute noch nicht beendet sind. Insbesondere wurden die Traditionen und Werte des christlich-jüdischen Abendlandes (deutsche Leitkultur) beschworen, auf die auch Zuwanderer sich einlassen sollten. Diese Forderungen können aber zwangsläufig von Muslimen, Hindus, Buddhisten und religiös Ungebundenen kaum akzeptiert werden. Deshalb neige ich zu der Auffassung von Jörg Lau, dass Leitkultur und Multikultur nicht mehr als Gegensätze anzusehen sind, vielmehr sind sie eine Scheinalternative bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme. Gerade eine de facto multikulturelle Gesellschaft wie unsere, formuliert Jörg Lau, braucht eine Leitkultur, aber eine Leitkultur anderer Art, als bisher gedacht. Es geht darum, die neue Vielfalt dieses Landes – in kultureller, ethnischer und religiöser Hinsicht – anzuerkennen und mit ihr leben zu lernen, ohne dabei in einen Werte-Relativismus abzugleiten.[28]

5.3 Besondere Migrationsprobleme in Deutschland mit türkischen Migranten und Muslimen

Tatsächlich ist nicht zu übersehen, dass sich die Integrationsprobleme in Deutschland vor allem auf muslimische türkische und seit einigen Jahren weitere muslimische Migranten (aus Nordafrika, dem Libanon, Syrien, Irak und Afghanistan) konzentrieren, während der Integrationsprozess anderer Zuwanderer (Polen, Italiener, Griechen, Kroaten) deutlich unproblematischer verläuft. Auch die anfänglichen Schwierigkeiten mit Jugendlichen Russlanddeutschen, die teilweise nur widerwillig ihren Eltern nach Deutschland gefolgt sind, sind weitestgehend überwunden.  

5.31 Türkische Migranten in Deutschland

Laut Statistischem Bundesamt (Stand Ende 2015)  stellen Personen mit türkischem Migrationshinergrund mit knapp 2,9 Millionen die größte Gruppe innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Davon sind 1,4 Millionen bzw. 47,8% selbst zugewandert, während 52,2% schon in Deutschland geboren wurden. Andere Quellen sprechen von 3,5 Millionen Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund. Die Zahlen sind z. T. widersprüchlich und berücksichtigen z. B. nicht die Tatsache, dass hierbei stets Kurden und andere Nationalitäten mitgezählt werden, die ihren Ursprung in der Türkei haben.
Es ist aber leider nicht zu übersehen, dass die Migrationsgruppe aus der Türkei in allen Belangen deutlich weniger in die Bundesrepublik Deutschland sozial integriert ist als z. B. Italiener, Spanier, Polen oder Migranten aus Ex-Jugoslawien. Dies gilt auch für die zweite und folgende Generation, in der es bei den übrigen Europäern eine weitaus stärkere Tendenz zur Assimilation gibt. Zwar vollzieht sich das Tempo des Spracherwerbs zwischen den Generationen bei Türken und den anderen europäischen Migranten ähnlich (wobei man bei Türken von einem im Durchschnitt niedrigeren Bildungsniveau ihrer Eltern ausgehen muss). Aber für die soziale und die emotionale Assimilation gibt es deutliche Unterschiede: Die Türken bleiben deutlich eher unter sich, sie sind  ihrer Herkunftsgesellschaft auch sehr viel stärker emotional verbunden als die übrigen Europäer. Einen negativen Aspekt in diesem Zusammenhang sollte man nicht übersehen, es ist die Möglichkeit über Satellit ohne Probleme türkisches Fernsehen zu empfangen, und bei regelmäßigem Konsum dieser Medien entfernt man sich ein Stück weit von der deutschen Wirklichkeit und wird zudem von einem staatlich gelenkten Fernsehen politisch nicht unbeträchtlich beeinflusst. So bleibt die Segmentation vieler Türken auch bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation erhalten, obwohl die sprachlichen Fertigkeiten hier eine derartige Zurückhaltung nicht erzwingen müsste. [29
 
Unterschiedliche Religion und Wertvorstellungen sind sicherlich das größte Hindernis. Hinzu kommen – im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft, auch aufgrund geringerer Bildung und Ausbildung – häufiger prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitslosigkeit, was zur sozialen Desintegration führt. Dies gilt aber in gleicher Weise – bei ähnlichen sozialen Verhältnissen - für ethnisch deutsche Bürger, wobei gerade der hohe deutsche Lebensstandard und das hohe Sicherheitsbedürfnis eine Ausgrenzung zumindest im Empfinden der Betroffenen nach sich zieht. Bei türkischen Bürgern verstärkt dies ein Beharren in ihren Parallelgesellschaften.
Ein weiteres Vorurteil in den Köpfen der deutschen Mehrheitsbevölkerung trägt allerdings auch dazu bei, dass die Integration aller türkischen Zuwanderer problematisch gesehen wird. Vielen Deutschen ist gar nicht bewusst, dass es sich bei den Zuwanderern aus der Türkei um eine sehr heterogene Gruppe handelt, die man nicht pauschal unter dem Begriff „Türken“ betrachten kann. Sowohl der Grund der Migration (Arbeitserlaubnis, Studium, Familiennachzug, Asyl) ist sehr unterschiedlich, aber auch der ethnische und religiöse Hintergrund. Man nimmt  vor allem die Kopftuch tragende türkische Frau in langen Kleidern wahr und türkische Männer, die im Autokorso türkische Fahnen schwingen. Dagegen sieht man nicht die emanzipierten, selbstbewussten Frauen und Männer, die im Beruf und in der Freizeit (z.B. beim Sport) anerkannt sind, deutsche Freunde haben und in politischen und religiösen Fragen eine liberale Haltung einnehmen. Man sieht die vielen Türken vor den Wahllokalen (meist Konsulaten), die ihr Stimmrecht als türkische Bürger ausüben, z.B.  bei Wahlen des Präsidenten oder des Parlaments der Türkei und jüngst bei der Abstimmung über eine neue türkische Verfassung mit einer Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten. Man weiß aber kaum, dass nur ca. 1,4 Millionen von bis zu 3,5 Millionen Türkischstämmigen überhaupt bei diesen Wahlen stimmberechtigt waren und dass davon bei der aktuellen Abtimmung über eine Verfassungsänderung  nur 48,73% d. h. weniger als 700.000 von ca. 1,4 Millionen der wahlberechtigten Türken in Deutschland an der Abstimmung teilgenommen haben, (WAZ vom 11.4.2017) und dass trotz (oder wegen) des erbitterten nach Deutschland hineingetragenen emotionalen Wahlkampfes Mehr als die Hälfte aller Personen mit türkischem Migrationshintergrund ist also bei Wahlen der Türkei in Deutschland überhaupt nicht abstimmungsberechtigt. Zieht man davon die Minderjährigen ab, verbleibt ein nicht unbeträchtlicher Anteil von Türkischstämmigen, die entweder bereits deutsche Staatsbürger sind oder aus verschiedensten Gründen an  Wahlen für Belange der Türkei nicht teilnehmen wollen. Unsere Presse ist mitverantwortlich für die falsche Einordnung, wenn die Überschriften lauten: „AKP-Wahlerfolg - Türken in Deutschland wählten Erdogan-Partei“ (Spiegel) oder „Überproportional viele Türken in Deutschland wählten AKP“ (FAZ). Die Ja-Sager für einen mächtigeren Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdigan sind mit 63% der hier abgegebenen Stimmen sehr lautstark als Sieger in Erscheinung getreten und der überwiegende Teil der deutschen Medien hat dazu ebenfalls ein falsches Bild der Lage gezeichnet. (z. B. WAZ vom  
18. 4.2017: "Türken im Revier feiern Erdogan") Trotz massiver Propaganda und Einschüchterungen gegenüber Nein-Sagern bedeutet dies doch, dass lediglich ca, 440.000 Wahlberechtigte von ca. 1,4 Millionen (= ca. 30%) für Erdogan gestimmt haben  und nur ca 13% aller in Deutschland lebenden Bürger mit einem türkischen Migrationshintergrund.

Dennoch muss man auf Grund der genannten Besonderheiten und Hindernisse leider festzustellen, dass seit etwa 2012 die Verbundenheit der türkischstämmigen Migranten mit Deutschland tendenziell eher abgenommen oder stagniert  hat, während die Verbundenheit mit der Türkei tendenziell eher zunahm. Einen nicht unbedeutenden Anteil an dieser Entwicklung hat der türkische Präsident Erdogan mit seiner konservativ-islamistischen AKP. Sie gibt den hier lebenden, sozial nicht anerkannten und  in die deutsche Gesellschaft schlecht integrierten Menschen das Gefühl der Anerkennung, man nennt sie "stolze Erben des osmanischen Reiches" und Botschafter der türkischen Tugenden in einer Welt, die die Türkei nicht versteht. Dies drückt sich dann in dem oben erwähnten Wahlverhalten der ca. 440.000 "Ja-Sager" aus. Bei einer besser gelungenen Integration dieser Türkischstämmigen wäre es für den türkischen Präsidenten und seine AKP wahrscheinlich nicht erstrebenswert, um die Wählergunst der Türkeistämmigen in Deutschland zu buhlen. [30]
Aber auch die ethnische und religiöse Vielfalt ist weitaus größer, als dies wahrgenommen wird. Bekannt ist vor allem der Gegensatz zwischen ethnischen Türken und Kurden, aber auch zwischen sunnitischen Muslimen und Aleviten. Nicht erfasst ist  die große Zahl der Türkischstämmigen, die  religiös nicht gebunden sind oder sich mit Minderheiten wie der Sufi-Bewegung verbunden fühlen. Siehe dazu weiter unter 5.4.  Deshalb ist es hilfreich, sich mit den  Migranten aus der Türkei und ihren Nachkommen etwas eingehender zu beschäftigen, die ethnisch oder religiös von der Mehrheit der Türkei-Migranten abweichen.  Daher nachstehend einige Fakten zu den beiden größten Minderheiten innerhalb der Migranten aus der Türkei und deren Nachkommen und in Kapitel 5.4 über die unterschiedlichen Gruppen der Muslime, ihre offiziellen Repräsentanten und dem Grad ihrer Anerkennung durch Muslime in Deutschland.

5.32 Aleviten in Deutschland

In Deutschland nehmen wir bei den türkischen Migranten vor allem die Muslime sunnitischen Glaubens wahr (Kopftuchträgerinnen), die mit Unterstützung der türkischen Regierung (Religionsbehörde) mit vielen z. T. prachtvollen Moscheen auch im Bild unserer Städte in Erscheinung treten. Dagegen wird die große Gruppe der Aleviten kaum beachtet und leider auch von deutschen Behörden fälschlicherweise dem sunnitischen Islam zugerechnet.
Daher geht man in Deutschland fälschlicherweise davon aus, dass 95% der Türken in Deutschland Muslime sind, der Rest sei konfessionslos oder gehört anderen Religionsgemeinschaften an, z. b. Christen und Yeziden. Dabei zählt man die große Zahl der Aleviten zum Islam, obwohl die Frage der Zugehörigkeit sowohl bei sunnitischen Muslimen wie auch bei den Aleviten selbst umstritten ist. Orthodoxe Muslime werfen den Aleviten vor, sie seien Ungläubige. Dennoch gelten sie in der Türkei zwangsweise als Muslime. Nach vielen Verfolgungen und Einschüchterungen in ihrem Herkunftsland Türkei wurden sich viele Aleviten in der Freiheit in Deutschland erst ihrer besonderen alevitischen Identität bewusst und es gibt innerhalb der Gemeinde heftige Diskussionen um den religiösen Standort. Einig sind sich Aleviten in der Überzeugung, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, das für sein Leben selbst die Verantwortung trägt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind und dass ihr Glauben sie zu  großer Toleranz gegenüber anderen Ethnien und Religionen verpflichtet. 
Man unterscheidet z. Zt. 5 verschiedene Strömungen bei den Aleviten:
- Eine Gruppe sieht sich – vor allem durch den Druck in der Türkei geprägt – als Teil der Muslime sunnitischen Glaubens.
- die zweite Gruppe sieht sich als eigenständige Konfession des Islam und steht in Opposition zum Sunnitentum
- eine weitere Gruppe sieht das Alevitentum als völlig eigenständige Religion, die älter ist als der Islam und durch diesen lediglich mit beeinflusst wurde (ähnlich dem Christentum, das durch das Judentum beeinflusst wurde)
- insbesondere bei Kurden sieht man das Alevitentum vor allem als vorislamische Religion mit Wurzeln im Zoroastrismus und bei vorislamischen Naturreligionen
- eine relativ kleine Gruppe sieht das Alevitentum in der Nähe der Schiiten und wird vor allem vom Iran unterstützt.
Abgesehen von der ersten Gruppe, die in Deutschland kaum vertreten ist, beten Aleviten nicht in der Moschee und leben nicht nach den Vorschriften des Koran. Ganz generell lehnen sie eine dogmatische Religionsauslegung ab.
Für die in Deutschland lebenden Aleviten wurde als Dachverband die Alevitische Gemeinde Deutschland (türkisch: Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu, Abk.: AABF) gegründet. Nach deren Angaben leben in Deutschland ca. 500.000 bis 800.000 Aleviten, wovon ca. 255.000 bis 275.000 in der AABF Mitglied sind. An der Spanne der Zahlen sieht man, dass verlässliche statistische Angaben fehlen. Der Verband der Aleviten in Deutschland tritt für eine Öffnung hin zu einer vielfältigen, offenen Gesellschaft ein. Er  unterstützt und fördert Maßnahmen zur besseren Integration und bemüht sich um alevitischen Religionsunterricht in deutschen Schulen.  

Auch bei Fehlen verlässlicher statistischer Zahlen ist festzustellen, dass wohl ca. ein Sechstel bis ein Viertel aller Migranten aus der Türkei und deren Nachkommen Aleviten sind. Ganz generell kann man feststellen, dass Aleviten in Deutschland ihre Integration in unsere Gesellschaft besonders aktiv betreiben, sich um den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft bemühen und von allen Migranten aus der Türkei eine Integration und teilweise eine Assimilation in die deutsche Gesellschaft besonders positiv sehen.[31]

5.33 Kurden in Deutschland

Die Assimilierungspolitik aller türkischen Regierungen seit Bestehen der modernen Türkei konnte die ethnischen Gegensätze zwischen Türken und Kurden nicht überbrücken. Im Gegensatz zu dem Turkvolk der Türken gehören Kurden zu den Indogermanen und sprechen eine dem Persischen ähnliche Sprache. Es fehlt bis heute in der Türkei der Wille, den ethnisch völlig anderen Kurden eine weitgehende Autonomie einzuräumen, die allein in der Lage wäre, eine Befriedung herbeizuführen. Dass diese Verweigerung zu Extremismus und Terrorismus geführt hat (bekannt ist der militärische Kampf der PKK) will man nicht einsehen und begegnet allen Autonomiebestrebungen statt dessen mit Verboten, Verfolgungen, Verurteilungen.
Ähnlich den Aleviten steht auch für die Kurden kein verlässliches statistisches Datenmaterial zur Verfügung, da weder die Herkunftsländer (also vor allem die Türkei), aber auch die Aufnahmeländer wie Deutschland kein Interesse daran zeigen, kurdische Migranten gesondert zu erfassen. Da es keinen kurdischen Staat gibt, werden kurdische Migranten als Staatsangehörige der Türkei oder des Irak, des Iran oder Syriens registriert. Amtlich erfasst werden Kurden nur, wenn sie als Asylbewerber angeben, als Kurde im Herkunftsland politisch verfolgt zu werden.
Dabei gab es besonders für Kurden der Türkei zwei wichtige Gründe für die Migration. Zum einen der wirtschaftliche Aspekt, weil in den Hauptsiedlungsgebieten der Kurden in Anatolien besondere Armut und Arbeitslosigkeit herrschte, zum anderen weil Kurden, die sich zu ihrer Ethnie bekannten, in der Türkei diskriminiert, unterdrückt und verfolgt wurden. Dies gilt vor allem für alevitische Kurden. Die staatliche Propaganda verbunden mit den Übergriffen extrem-nationalistischer Gruppen wie den „Grauen Wölfen“ haben die Konflikte geschürt und mehrere Massaker an alevitischen Kurden provoziert. Nach den antialevitischen Pogromen von 1978 migrierten bzw. flüchteten zahlreiche Kurden und Kurdinnen aus Anatolien. Religiöse Minderheiten, wie die Aleviten, aber auch christlichen Minderheiten und die kurdischen Yeziden unterlagen einem besonderen Vertreibungsdruck.
Wie erwähnt liegen keine verlässlichen Zahlen vor. Der Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministers 1997 schätzt 500.000, der Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 1997 etwa 600.000 in der Bundesrepublik lebende Kurden. Die Deutsch-Kurdische Gesellschaft schätzte im Jahre 2002 die Zahl der Kurden in Deutschland auf ca. 700 bis 800.000. Andere Schätzungen gehen von mehr als 1 Million Kurden aus, allerdings einschließlich kurdischer Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Deshalb fordern kurdische Organisationen, eine positivere Haltung des deutschen Staates zu seinen kurdischen Mitbürgern, vor allem eine Anerkennung als eigenständige Migrantengruppe und die statistischen Erfassung nicht nur nach Staatsangehörigkeit, sondern auch nach ethnischer Zugehörigkeit. Man verweist auch darauf, dass ethnisch türkische Migranten durch den türkischen Staat massiv unterstützt werden, z. B. durch Baukosten für Moscheen und kostenlose Entsendung von Imanen, während kurdische Muslime (und erst recht Aleviten) aus Mangel an Geld keine Möglichkeit haben, ihren Glauben in ihrer Muttersprache zu praktizieren. [32]

5.34 Vielfalt der Identitäten bei Migranten aus der Türkei

Es ist also völlig falsch, die Bürger mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland als einen einheitlichen ethnischen und religiösen Block zu betrachten. Auch politisch ist eine eindeutige Zuordnung zu den Anhängern des jetzigen religiös-Konservativ-nationalistischen Präsidenten Erdogan und seiner Partei AKP völlig falsch. Wenn wir von den obigen Zahlen nur die Mindestwerte nehmen, so muss man von 2,9 Millionen Personen mit Migrationshintergrund Türkei jeweils einen Block von mindestens 500.000 Aleviten und 500.000 Kurden in Abzug bringen, die man keinesfalls zu den in der Öffentlichkeit wahrgenommenen türkischen Migranten zählen darf. Einen weiteren großen Block würde ich als schweigende Minderheit bezeichnen, die z. B. nicht an Wahlen zum türkischen Präsidenten / Parlament teilnimmt und sich auch nicht durch die verschiedenen muslimischen Verbände in Deutschland repräsentiert sieht (siehe weiter unten). Schließlich gibt es bei den Migranten aus der Türkei m. E. eine große Gruppe, deren eigene Identität oft gespalten ist. In Deutschland fühlt man sich als Türke oder als Deutschtürke, noch häufiger als Frankfurter oder Kölner, beim Urlaub in der Türkei ist man der „Deutschländer“. Diesen Mitbürgern mit gespaltener Identität muss man Zeit lassen.
Diese Feststellung untermauert eine zwar nicht mehr ganz neue Studie zur kollektiven Identität türkischer Migranten in Deutschland, [33] die m. E. auch heute noch weitgehend zutrifft. Die Verfasser weisen darauf hin, dass kollektive Identitäten nach Form und Ausprägung stark variieren und sehr diffus sein können und die Mitglieder von Gruppen auch unterschiedlich stark binden. Dennoch sei nicht zu übersehen, dass bei Muslimen allgemein und Türken im besonderen größere Hemmnisse vorliegen, diese in unsere Gesellschaft zu integrieren, als dies bei anderen Europäern und erst recht bei Spätaussiedlern der Fall ist. Letztere sind ja (abgesehen von einem Teil ihrer Kinder) nach reiflicher Überlegung mit dem festen Entschluss nach Deutschland gekommen, sich hier in ihre „Wunschnation“ so schnell wie möglich zu integrieren.
Bei türkischen Staatsangehörigen gibt es ein weiteres Problem, das auch unterstreicht, warum vergleichsweise wenige Türken die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, obwohl sie gut integriert sind. Denn mit dem Ausscheiden aus der türkischen Staatsangehörigkeit verliert man in der Türkei alle Rechte und Ansprüche, vor allem Erbrechte. Dies hält viele Deutschtürken davon ab, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, hinzu kommt, dass umgekehrt in Deutschland der Grundsatz gilt, das eine doppelte Staatsbürgerschaft bei Zuwanderern aus Staaten außerhalb der EU und der Schweiz zu vermeiden ist.

5.4 Muslime in Deutschland

Nach einer Hochrechnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lebten am 31. 12. 2015 zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime in Deutschland, was bei einer Einwohnerzahl von 82,2 Millionen einem Anteil von 5,4 bis 5,7% der deutschen Bevölkerung entspricht. Über Jahrzehnte haben Migranten aus der Türkei (siehe vorstehendes Kapitel) das Bild der Muslime in Deutschland weitgehend geprägt. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich dieses Bild jedoch erheblich erweitert. Beginnend mit Fluchtbewegungen nach den Kriegen in Bosnien und dem Kosovo in den 1990er-Jahren und besonders seit der Jahrtausendwende mit den Flüchtlingen und Asylsuchenden aus dem Irak, Syrien und Afghanistan, aber auch aus Nordafrika, ist die Zahl der Muslime erheblich gewachsen und der Islam vielfältiger geworden. Allein zwischen 2011 und 2015 sind rund 1,2 Millionen muslimische Männer und Frauen nach Deutschland gekommen, ihr Anteil an allen Muslimen beträgt 27,3%.[34]
Damit ist der Islam in Deutschland schon im Hinblick auf die Herkunftsländer seiner Angehörigen vielfältiger geworden. Hinzu kommt aber vor allem auch eine wesentlich größere Vielfalt im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu den diversen Glaubensrichtungen, die sich ja zum Teil gegenseitig als Ungläubige bezeichnen. Auf die besondere Situation der Aleviten aus der Türkei habe ich im vorigen Kapitel schon hingewiesen. Ein ähnlicher Abstand zum Islam liegt bei den Alawiten aus Syrien vor. Die Schwierigkeiten rühren aber schon daher, dass es im Islam keine besonderen Eintrittsriten gibt, wie die Taufe bei Christen und auch kein oberstes Lehramt, wie z. B. in der katholischen Kirche. Jeder Muslim hat im Prinzip das Recht, den Koran für sich selbst auszulegen. Zwar gibt es verschiedene Hochschulen, oberste Landes-Imane oder Ajatollahs, aber deren Auslegung ist keinesfalls verbindlich.
So gibt es in Deutschland ein unübersichtliches Geflecht aus einzelnen Moschee-Gemeinden, kleinen Verbänden, Dachorganisationen und übergeordneten Zusammenschlüssen, deren Kurzbezeichnungen verwirrend sind. Viele dieser Dachverbände nehmen für sich in Anspruch, für bestimmte muslimische Gruppen, zum Teil auch für alle Muslime zu sprechen. So haben sich im April 2007 vier Verbände im  

Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammengeschlossen. Das sind: a) der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) b) der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD), c) die Türkisch Islamische Union (DITIB) und d) der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Dieser Zusammenschluss (KRM) behauptet von sich, 85% der in Deutschland lebenden Muslime zu vertreten und erhebt damit den Anspruch, legitimer Ansprechpartner des deutschen Staates zu sein, z. B. in Fragen des muslimischen Religionsunterrichtes. Aber stimmt das überhaupt?
a) Der Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V.(ZMD)
Der 1994 gegründete Zentralrat ist die Dachorganisation von 22 muslimischen Organisationen und ca. 300 Moscheegemeinden. Der Verband tritt häufig in der Öffentlichkeit auf und sein Vorsitzender Ayman Mazyek hat einen gewissen Bekanntheitsgrad. Der ZMD betont in seiner Selbstdarstellung, dass er die Vielfalt der Muslime in Deutschland am besten vertritt, da er übernational und überkonfessionell organisiert sei. Im gehören Sunniten und Schiiten, Türken, Deutsche, Araber, Perser, Bosnier und Albaner an. Mitglied im ZMD ist u. a. die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB) mit ca. 10.000 Mitgliedern
 
b) Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD)
Der Islamrat wurde 1986 in Berlin gegründet und ist ein Dachverband für sunnitische Gemeinden, mehrheitlich von Türken, aber auch von Marokkanern, Somaliern und Bosniaken. Größtes und damit dominierendes Mitglied des Islamrates ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG), Dieser Organisation wird ein besonders fundamentalistisches Denken nachgesagt und Kritiker werfen Milli Görüş zu viel Nähe zu extremistischen Gruppen vor.
c) DITIB
Am bekanntesten ist zweifellos der Verband der türkischstämmigen Sunniten Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (türk. Diyanet İşleri Türk İslam Birliği = DITIB). Dem Verband gehören über 900 Moscheevereine an. Es besteht eine große Nähe zu und Abhängigkeit von der türkischen Religionsbehörde Diyanet İşleri Başkanlığı. Die meisten Imane dieser Moschee-Vereine werden von der türkischen Religionsbehörde auf Zeit nach Deutschland entsannt und sind bezahlte Angestellte dieser Behörde. Nur wenige beherrschen die deutsche Sprache und sie bekommen wöchentlich aus der Türkei Manuskripte als Vorlage für ihre Freitags-Predigten. In den zurückliegenden Jahrzehnten war Ditib durchaus eine Kraft der Mäßigung. Ein Partner, mit dem Christen und Juden in der interreligiösen Ökumene gerne kooperierten. Bei laizistisch und liberal denkenden Muslimen wird der Verband jedoch inzwischen sehr kritisch gesehen und in der letzten Zeit zeigt sich immer mehr, wie stark er tatsächlich vom türkischen Staat abhängig ist. Seit der türkische Staatspräsident Erdogan immer aggressiver agiert, werden auch so manche Vertreter der Ditib aggressiver. Einige Beispiele: Bespitzelung von Regimegegnern Erdogans, Prediger (Imane) die die deutsche Sprache nicht beherrschen kritiklos die von der Religionsbehörde verfassten Predigten vortragen, die mit der deutschen Wirklichkeit wenig zu tun haben, kritische Muslime werden bespitzelt und bedroht, ihnen wird öffentlich der Handschlag verweigert. Kritische muslimische Theologen wie Mouhanad Khorchide, die Frauenrechtlerin Seyran Ates oder ein islamkritischer Publizist wie Hamed Abdel-Samad können sich nur noch mit Polizeischutz bewegen. Selbstverständlich handeln nicht alle DITIB-Vertreter so, aber den Erdogan-hörigen und den Scharfmachern muss die Grenze der Toleranz aufgezeigt werden.
d) Verband der Islamischen Kulturzentren e. V. (VIKZ)
Der VIKZ ist der erste islamische Dachverband, der schon 1973 in Köln gegründet wurde. Ihm sind in Deutschland rund 300 Moschee-Vereine angeschlossen. Der Verband versteht sich als politisch neutral, seine Mitglieder gelten als tief religiös. Der Verband bildet seit den 1980er Jahren eigene islamische Theologen aus.
Alle im Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammengeschlossen Dachverbände betonen in ihrer öffentlichen Darstellung ihre Toleranz, die Gleichstellung der Frau und die Ablehnung von Gewalt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sie alle einen sehr fundamentalistischen Glauben verkünden, der sich eng an einer wörtlichen Auslegung des Koran orientiert. Manches Mal vermisste man in der Vergangenheit auch eine deutlichere Distanzierung gegenüber muslimischen Extremisten, Dschihadisten.
 
Neben diesen Dachverbänden gibt es noch eine Vielzahl weiterer muslimischer Verbände und Organisationen mit zum Teil sehr unterschiedlicher Zielsetzung.[36] So tritt der Liberal-Islamische Bund (LIB) mit Sitz in Köln für eine offene und moderne Auslegung des Koran ein. Ihm gehören viele muslimische Akademiker und Intellektuelle an. Auf die Sonderstellung der Aleviten habe ich bereits im vorhergehenden Kapitel hingewiesen.
Eine Studie “Muslimisches Leben in Deutschland“ (MLD) aus dem Jahre 2009 hat ergeben, dass rund zwei Drittel der befragten Muslime mindestens einen der vorgenannten Dachverbände kennen, aber weniger als 25% fühlen sich ohne Einschränkung von einem Verband oder Dachverband voll vertreten. Die vorgebrachten angeblichen Vollmachten und Vertretungsansprüche sind also sehr zu hinterfragen, insbesondere ist die Frage erlaubt, wer vertritt die Mehrheit der nicht organisierten Muslime?
Wie Bundespräsident Christian Wulff in seiner bekannten Rede vom Oktober 2010, aber bereits vier Jahre zuvor der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, richtig feststellten, gehört der Islam inzwischen zu Deutschland. Zu fragen ist allerdings: Welcher Islam? Denn es ist nicht zu übersehen, dass der Islam viele Gesichter hat. Da gibt es auf der einen Seite die Fundamentalisten, teils mit friedlichen Auslegungen des Koran, aber auch die Extremisten, die sich auf den Koran berufen, wenn sie Andersgläubige drangsalieren, schikanieren und sogar Terrorakte verüben. Schließlich gibt es die vom jeweiligen Herkunftsstaat geleiteten Muslimführer und Imane, die es gut heißen, wenn sich Muslime in die Segregation zurückziehen und lückenlose Parallelstrukturen aufbauen, damit sie so die jeweilige Glaubensgruppe fester an sich binden können. Auf diese Weise verhindern sie Kontakte zu Nichtmuslimen und bewirken, dass sich orthodoxe Vorstellungen verfestigen, die im Gegensatz zu den Werten und den kulturellen Gepflogenheiten in Deutschland stehen. Wer glaubt, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter unislamisch ist, dass Nichtmuslime in der Hölle landen oder dass Apostaten den Tod verdienen, befindet sich nur physisch, nicht aber mental in Deutschland. Das gilt auch für diejenigen, die Koran-Befehle unhinterfragt ausführen möchten und Nachdenken als Häresie ablehnen.[37] 

Dr. Akli Kebaili, Leiter der Antidiskriminierungsstelle beim Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt, ist Jurist und Politologe. Er stammt aus Algerien, ist aber Berber und nicht Araber. Er verweist auch auf die unterschiedliche Prägung der Muslime je nach Herkunftsland und nennt sieben sehr unterschiedliche Gruppen, die diese Vielfalt unterstreichen:

a) Menschen, die sich zwar als Muslime bezeichnen, den Islam aber nicht streng praktizieren, die offen und tolerant sind gegenüber anderen Religionen und Kontakte zu Deutschen suchen. Leider werden sie dort oft als Muslime wahrgenommen, stattdessen sollte man mehr auf sie zu- und eingehen.
b) Muslime, die sich als solche bezeichnen, den Islam und seine Gebote aber nicht praktizieren. Auch sie sind für eine bessere Integration gut ansprechbar.
c) Muslime, die den Islam nur zum Teil praktizieren, aber der Meinung sind, dass der Islam mit Menschenrechten, Demokratie, Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau durchaus vereinbar ist.
d) Menschen, die aus muslimisch geprägten Staaten kommen, den Islam aber nicht praktizieren. Sie bezeichnen sich aber als religiös und gleichzeitig weltoffen. Sie meinen, dass Demokratie auch in islamischen Ländern möglich ist und sind enttäuscht, dass der Westen oft mit diktatorischen Regimen zusammenarbeitet, weil diese Zusammenarbeit eine demokratische Entwicklung behindert.
e) Menschen aus islamisch geprägten Ländern, die nicht gläubig sind und den Islam dafür verantwortlich machen, dass sich diese Länder nicht weiter entwickeln. Sie verlangen eine strenge Trennung von Staat und Religion.
f) Muslime, die streng gläubig sind, andere Religionen nicht anerkennen und den Islam nicht nur als Religion, sondern auch als Ordnungssystem und Kultur ansehen. Trotzdem lehnen sie Gewalt ab.
g) Menschen, die den Islam radikal auslegen und die Lösung aller Probleme in einer Islamisierung der gesamten Welt sehen. Sie sind ggf. bei passender Gelegenheit auch zu Gewalt gegen Nicht-Muslime bereit und setzen ihre Landsleute unter Druck, die nach ihrer Meinung den Islam nicht richtig leben.
Dr. Akli Kebaili ist der Meinung, dass mit den letzten beiden Gruppen f) und g) kein Gespräch möglich ist und man diesen Menschen gegenüber auch keine Toleranz zeigen sollte. Der deutsche Staat habe hier all zu lang weggeschaut  und es auf der anderen Seite versäumt, durch bessere Bildung, Ausbildung, Wohnungsangebote u. a. die Integration zu fördern.[38]

Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich durch bessere Bildung bei der Mehrheit der Muslime eine aufgeklärte Haltung durchsetzen würde, die anerkennt, dass es in religiösen Fragen keine absoluten Wahrheiten gibt und man daher die für sich gefundene Wahrheit nicht anderen gegenüber als überlegen ansehen darf. Es wäre auch viel gewonnen, wenn viele Muslime (genau so wie Christen, Juden und andere Religionsangehörige) zu der  Erkenntnis kommen, dass es einen Glauben ohne Zweifel nicht gibt, sonst ist es kein Glaube, sondern Ideologie.

Gott sei dank gibt es aber auch viele Beispiele eines differenzierenden und aufgeklärten Islam. Die Vertreter dieser Richtung sind gegenüber der Koran-Tradition und der Überlieferung nicht naiv und unkritisch, ihr geistiger Horizont ist weit. Sie kennen und praktizieren zum Beispiel die historisch-kritische Methode der Koranauslegung, die sie von westlichen Christen kennen. Diesen aufgeklärten Islam gibt es vor allem in der westlichen Welt und auch in Deutschland. Seine Vertreter stehen im Dialog mit Religionsphilosophen und Theologen anderer Religionen. Schwer hat es dieser aufgeschlossene Islam jedoch in den mehrheitlich islamischen Staaten, vor allem in Saudi-Arabien, den Golfstaaten und Ägypten. Dort wurden aufgeschlossene Theologen wegen ihrer Ansichten per Fatwa für vogelfrei erklärt und sogar von fanatisierten Muslimen ermordet. Aber auch in muslimischen Ländern wie Mali, Niger, Senegal und Indien wehren sich Religionsgelehrte und Imane gegen fundamentalistische Praktiken. Doch angesichts der bitteren Armut in ihren Ländern und der vollen Geldbeutel der Prediger aus Arabien, fällt es ihnen oft schwer, ihre Sicht eines aufgeklärten und toleranten Islam zu praktizieren.[39]
 
Auch in Deutschland haben es liberale, humanistische und kritische Denker schwer, in der muslimischen Öffentlichkeit und erst recht bei den Vertretern der im Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammengeschlossen Dachverbänden Gehör zu finden. Einer davon ist der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, vielen bekannt geworden durch seine berühmte Rede anlässlich der Verleihung des deutschen Buchpreises. Der in Münster lehrende Theologe Mouhanad Khorchide wurde durch seine Publikation „Islam ist Barmherzigkeit“ auch bei vielen Deutschen bekannt, erfuhr aber bei vielen seiner Glaubensbrüder – vor allem in den vorgenannten Verbänden – mehr Ablehnung als Zuspruch. Khorchide verwarf die Idee einer ewigen Gültigkeit von Versen und Sprüchen, in denen Hass auf Nichtmuslime, Frauenfeindlichkeit und Rechtfertigungen von Gewalt zu finden sind und wollte sie lediglich als Dokumente der Vergangenheit verstanden wissen. Ähnlich denken muslimische Intellektuelle, die sich im Muslimischen Forum Deutschland oder dem Liberal-Islamischen Bund zusammengeschlossen haben. Dazu zählen die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor , die scharfe Kritik am islamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen äußert, der von den ausnahmslos fundamentalistisch orientierten Verbänden des Koordinationsrates der Muslime geprägt sei. Auch Seyran Ates ist so eine Hoffnungsträgerin. Die streitbare Anwältin für einen liberalen Islam wird in kürze als Imanin einer offenen liberalen Moscheegemeinde in Berlin tätig. Die Gemeinde ist offen für alle Richtungen des Islam, Männer und Frauen beten gemeinsam und auch gleichgeschlechtliche Paare sind willkommen. Seyran Ates sagt, dass man dort einen zeitgemäßen Islam leben will, der stolz darauf ist, dass er lange vor dem Christentum bereits hervorragende Denker und Aufklärer hatte, wie Avicenna und Ibn Rushd. Der von ihnen gelehrte Islam wurde durch orthodoxe und konservative Herrscher unterdrückt. 
 Zu verweisen ist auch auf die vielen liberal denkenden Muslime, die aus Bosnien zu uns kamen, wo der Islam seit Jahrhunderten ein Teil Europas war und sich aufgeklärt und humanistisch zeigte. Erst durch den Bosnienkrieg haben leider saudi-arabische Geldgeber in Bosnien eine teilweise Wende zum Fundamentalismus erzeugen können.[40]
 
Leider sind diese liberalen und toleranten Muslime in Deutschland noch eine kleine Minderheit, stellt die frühere Islambeauftragte der SPD im Bundestag, Lale Akgün, fest. Sie verweist darauf, dass jeder Muslim das Recht und die Möglichkeit hat, den Koran selbst auszulegen. Durch gute Bildungsarbeit müssen wir die Muslime davon überzeugen, dass sie sich von der wortwörtlichen Auslegung des Koran lösen müssen, so dass sie ihn als eine historische Schrift verstehen und nicht den zeitgebundenen und damit konservativen Auslegungen vertrauen. Vielmehr sollen sie die Bildersprache des Koran und den dahinter stehenden friedlichen Geist verstehen lernen. In der buchstabengetreuen Befolgung von Sätzen und Gesetzen verfehlt sich der Islam selbst, sagt auch der schon erwähnte Mouhanad Khorchide. Er sagt, dem Islam geht dann das Herz verloren. Um dieses heiße Herz des Islam neu zu entdecken, zeigt er einen Liebes- und Gerechtigkeits-Islam auf, der wegführt von den juristischen Deutungen mit drakonischen Strafen. Der „Weg zur Quelle“, so die Übersetzung des arabischen Wortes Scharia, ist nur zu finden, wenn das Gottesbild verändert wird. Weg von dem strafenden und hin zum liebenden Gott. Einen ähnlichen Weg musste auch das Christentum in den zurückliegenden Jahrzehnten gehen und auch dort ist der Weg noch nicht abgeschlossen. Dazu braucht es einen langen Atem und es ist natürlich noch viel Überzeugungsarbeit nötig. Lale Akgün ist davon überzeugt, dass der Islam auf Dauer selbst Probleme bekommt und nicht überlebensfähig ist, wenn er sich nicht zu einem weltoffenen Euro-Islam erneuert.[41] Ähnlich äußert sich Ahmad Mansour, wenn er schreibt, dass es den einen Islam nicht gibt, erst recht nicht in Deutschland. Leider befinden sich unter den vielfältigen Gruppen des Islam auch fundamentalistische Strömungen mit einer unkritischen, buchstabengetreuen Koranauslegung, was zu Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Antisemitismus und einem starren Muster für Familie und Staat führt. Das aber steht im Gegensatz zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft  und wird deshalb in unserem Land - auch von vielen Muslimen - nicht akzeptiert. Eben weil der Islam zu Deutschland gehört, muss über ihn diskutiert, muss er kritisiert und reformiert werden.[42]

6. Konsequenzen und Perspektiven

Man sieht, die Probleme im Zusammenhang mit Migration und Integration sind vielfältig. Zu lösen sind sie zweifellos nur, wenn alte Vorstellungen von Nationalstaaten mit einheitlicher ethnischer und kultureller Bevölkerung endgültig zu den Akten gelegt werden. Der Soziologe Ulrich Beck ist davon überzeugt, dass Migration und die Folgen von Kriegen und Bürgerkriegen nur mit einer Trennung von Staat und Nation (ich sage von Staatsnation und Kulturnation) beantwortet werden können. Ähnlich wie der weltanschaulich neutrale Staat mit der Trennung von Staat und Religion die Ausübung verschiedener Religionen überhaupt erst ermöglicht, müssen kosmopolitische Staaten das Nebeneinander der nationalen und religiösen Identitäten durch das Prinzip der konstitutionellen Toleranz gewährleisten.[43]
Alle europäischen Staaten haben auf diese Weg noch Nachholbedarf. Der deutsche Staat muss vor allem seine Bemühungen verstärken, die Bildungs- und Ausbildungschancen seiner zugewanderten Mitbürger zu verbessern. Dann wird – wie viele Beispiele aus anderen Einwanderungsländern beweisen – auch über den Umweg der Einwanderungskolonie eine Integration in und eine Identifikation mit unserem deutschen Staat gelingen, allerdings keinem Staat, wie ihn sich rechte Politiker in Verkennung der Wirklichkeit als monolithischen National-Staat vorstellen. Andererseits kann dies natürlich auch nicht gelingen, wenn Einwanderer an archaischen Gewohnheiten festhalten, die unserem Freiheitsverständnis entgegenstehen. Dazu zählen ein fundamentalistisches Religionsverständnis, keine Gleichberechtigung der Frauen und Praktiken wie Zwangsheirat, Ehrenmorde, Beschneidungen bei Mädchen – aber auch bei Jungen, wenn sie nicht freiwillig in entsprechendem Alter geschehen. Hinter den Ehrenmorden ist in fataler Weise ein patriarchalischer Ehrbegriff erkennbar und wirksam, der nicht nur in islamischen, sondern generell in vormodernen Gesellschaften höher rangiert als der Begriff der Würde des Menschen. Hier muss in den islamischen Gemeinschaften selbst dafür gesorgt werden, dass diese Praktiken – auch aus Glaubensgründen – zu verwerfen sind. Sie müssen in freiheitlich demokratischen Staaten mit aller Härte des Gesetzes  bestraft werden.  

Ganz allgemein wäre es hilfreich, wenn der deutsche Staat darauf hinarbeiten würde, dass in islamischen Moscheen Imane verantwortlich sind, die in Deutschland nach den Grundsätzen von Recht und Toleranz ausgebildet wurden, die die deutsche Gesellschaft kennen und in der Lage sind, ihre Predigten auch in deutscher Sprache zu halten, denn es ist ja eine Tatsache, dass manche türkische Jugendliche inzwischen die deutsche Sprache besser beherrschen als die türkische. Damit will ich keinesfalls die Meinung unterstützen, dass generell deutsch zu predigen ist, denn Anerkennung kultureller Vielfalt schließt den Gebrauch der Muttersprache vor allem bei religiösen Handlungen mit ein.
Das Modell der Zukunft kann nur der kulturell vielfältige Rechtsstaat sein, in dem jede Form der Diskriminierung abgelehnt und es einen breiten Konsens hinsichtlich der in unserer Verfassung verbrieften Rechte und Werte gibt. Um dies zu erreichen, haben Migranten ebenso wie die Mehrheitsgesellschaft und die deutsche Politik noch viel zu tun. Aber ich bin optimistisch, dass es gelingen kann.



Fußnoten


[1] Anna Amelina: „Transnationalisierung zwischen Akkulturation und Assimilation“ COMCAD Arbeitspapiere – Nr. 41, 2008
[2] Benutzte Literatur u.a.; http://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/migration/, Steffen Angenendt (Hrsg) „Migration und Flucht“, Bundeszentrale für politische Bildung, Band 342
[3] Johann Hinrich Claussen: „Die Bibel: Ein Buch der Fremden“ in Publik-Forum Nr. 2/2017
[4] Pogrom Nr. 256-257 Ausgabe 5-6/2009
[5] Rainer Münz: „Phasen und Formen der europäischen Migration“ in Migration und Flucht“, Bundeszentrale für politische Bildung, Band 342
[6] Petrus Han „Soziologie der Migration“, Lucius & Lucius, Stuttgart 2005, S. 6
[7] Stephen Castles: „Multikulturalismus als Gesellschaftskonzept – der australische Weg“, in Menschen über Grenzen, Grenzen über Menschen – Herausgegeben von Klaus J. Bade, Heitkamp-Edition 1995
[8] Rainer Münz: „Phasen und Formen der europäischen Migration“ in „Migration und Flucht“, Bundeszentrale für politische Bildung, Band 342
[9] Wie vor
[10] Informationen zur politischen Bildung 1. Quartal 1989 Thema „Aussiedler“ und Informationen zur politischen Bildung 2. Quartal 2000.
[11] Informationen zur politischen Bildung 1. Quartal 1989 Thema „Aussiedler“ und Informationen zur politischen Bildung Jan./Febr. 1969 und Staatsbürgerliche Informationen Juli/Aug. 1957 „Die Sudetendeutschen“
[12] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsatlas/migrationsatlas-2014-11.html  - Ausführliche Literaturangaben zum Thema Migration, Integration findet man z.B. auch auf der Internetseite der Stadt Bottrop unter https://www.bottrop.de//soziales/zuwanderung/index.php 
[14] Maik Grote : Integration von Zuwanderern:  Die Assimilationstheorie von Hartmut Esser und die Multikulturalismustheorie von Seyla Benhabib im  Vergleich - Dezember 2011 – Universität Bremen Migremus Arbeitspapiere Nr 2/2011, der hier wiederum Jutta Aumüller zitiert: (in Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. Bielefeld: transcript Verlag 2009.)
[15] https://www.welt.de/debatte/article1660510/Das-sagte-Ministerpraesident-Erdogan-in-Koeln.html
[16] Esser, Hartmut: Integration und ethnische Schichtung / Hartmut Esser – Mannheim : 2001 (Arbeitspapiere - Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung ; 40) ISSN 1437-8574
[17] http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/205183/integration-in-der-postmigrantischen-gesellschaftIntegration, darin Naika Foroutan die u.a. die Migrationsforscher Klaus J. Bade und Dietrich Thränhardt zitiert.
[18] Klaus J. Bade: „Integration und Politik – aus der Geschichte lernen?“ in APuZ . Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 40-41/2006
[19] Esser, Hartmut: Integration und ethnische Schichtung / Hartmut Esser – Mannheim : 2001 (Arbeitspapiere - Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung ; 40) ISSN 1437-8574
[20] Esser, Hartmut: Integration und ethnische Schichtung / Mannheim : 2001 (Arbeitspapiere - Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung ; 40) ISSN 1437-8574 pdf und Prof. Dr. Martin Baumann, Luzern: „Religion und ihre Bedeutung für Migranten“ in „Religion – Migration – Integration in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“ Dokumentation des Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Berlin und Bonn 2004
[24] Arte-Sendung vom 14. 2. 2017 „Die neue Völkewanderung“
[25] Klaus J. Bade: „Integration und Politik – aus der Geschichte lernen?“ in APuZ . Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 40-41/2006
[25a] Jan Diedrichsen: "Die neuen Minderheiten" in pogrom 304_1/2018
[26] Peter Altmaier: Staatsangehörigkeit in Deutschland in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 1999
[27] Migrationsbericht 2015 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung (pdf)
[28] Jörg Lau, Selbstachtung und Selbstverbesserung. Der Patriotismus der Berliner Republik, in: Merkur (Sonderheft 9/10) 2006,S. 800–812.
[29] Esser, Hartmut: Integration und ethnische Schichtung / Hartmut Esser –Mannheim : 2001 (Arbeitspapiere - Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung ; 40)ISSN 1437-8574 pdf
[30] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ueberproportional-viele-akp-waehler-in-deutschland-13889009.html, http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerken-in-deutschland-waehlten-erdogan-partei-akp-a-1060661.html und Haci-Halil Uslucan "Türkeistämmige in Deutschland - heimatlos oder überall zu Hause" in Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 11-12, März 2017
 [31] https://www.welt.de/politik/deutschland/article12703157/Aleviten-die-anderen-Tuerken-in-Deutschland.html - https://de.wikipedia.org/wiki/Aleviten - Das Alevitentum, eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland, herausgegeben von der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V.(AABF), Köln, März 2004 -  http://www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/Magazin/Gemeindeleben/Aleviten/aleviten-inhalt.html - http://alevi.com/de/?page_id=90 
[32] https://de.wikipedia.org/wiki/Kurden_im_deutschsprachigen_Raum - www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Soziale.../Kurden_in_Deutschland.pdf - duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/.../Skubsch%20041-045.pd.. [33] Tanjev Schulz/Rosemarie Sackmann:“Wir Türken… Zur kollektiven Identität türkischer Migranten in Deutschland“ in Aus Politik und Zeitgeschichte B43 vom 19. 10. 2001
[34] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: „Wie viele Muslime leben in Deutschland?“ - Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. 12. 2015 im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz – Working Papeer 71 von Anja Stichs
[36] Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 1-3000-004 / 2015 und http://www.n-tv.de/politik/Wer-spricht-fuer-die-Muslime-in-Deutschland-article14309876.html
[37] Susanne Schröter: „Welcher Islam gehört zu Deutschland?“ http://www.dw.com/de/welcher-islam-gehört-zu-deutschland/a-19276678
[38] Akli Kebaili: "Keine Klischees bitte!" in pogrom Nr. 231 - 3/2005, Thomas Seiterich: „Geistiger Krieg“ in Publik-Forum 13/2013 vom 12.07.2013
[39] [http://www.zeit.de/2001/46/200146_islam_afrika.xml] Bartholomäus Grill -  Kapstadt:  Der Islam in Afrika ist toleranter als der in der arabischen Welt. Dennoch scheint der tausendjährige Religionsfrieden gefährdet - Thomas Seiterich: "Geistiger Krieg" in Publik Forum 13/2013
[40]  Katja Dorothea Buck: Sie unterrichtet Hauptschüler in Islamkunde. Nebenbei bringt Lamya Kaddor die Integration in ganz Deutschland voran – in Publik-Forum Nr. 13/2013 - "Nennt mich bloß nicht Martina Luther" - Interview mit Seyran Ates in Publik-Forum Nr. 7/2017 - www.dw.com/de/bosnien-ort-eines-europäischen-Islam/a.19267486
[41] http://www.deutschlandfunk.de/islam-in-deutschland-die-liberalen-muslime-sind-leider-eine.694.de.html?dram:article_id=308202 - Britta Baas:„Der missverstandene Gott“ in Publik-Forum Nr. 19/2013
[42] Ahmad Mansour in bpb-magazin Nr. 11, März 2017 
[43] http://www.eurozine.com/der-kosmopolitische-staat/








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