3.091 Rätoromanen / Bündnerromanen





1. Namen, Lage und Zahlen

Die Rätoromanen der Schweiz sind eine von drei Gruppen der verbliebenen Rätoromanen  im Alpenraum (siehe 3.09 Rätoromanische Völker). Die Benennung ist nicht einheitlich. In der Regel wird die Bezeichnung auch als Oberbegriff für alle 3 Volksgruppen (Rätoromanen der Schweiz, Dolomiten-Ladiner und Friauler) benutzt. Daher hat sich besonders in der Sprachwissenschaft der Terminus „Bündnerromanisch“ bzw. Bündner-Romanen herausgebildet, um die Rätoromanen des Kantons Graubünden von den Ladinern und Friaulern abzugrenzen. In der Alltagspraxis hat sich diese zweifellos präzisere Benennung aber nicht durchgesetzt. Rätoromanisch ist eine von vier Landessprachen der Schweiz und  Rätoromanisch ist die offizielle Bezeichnung laut Schweizerischer Verfassung und Amtsführung für  alle rätoromanischen Idiome (s.u.) . Teilweise wird auch nur „Romanisch“  verwandt, was linguistisch natürlich noch unpräziser ist.
Rätoromanen leben vornehmlich im  Kanton Graubünden, der flächenmäßig der größte und gleichzeitig der  einzige dreisprachige Kanton der Schweiz ist. Ende 2011 zählte der Kanton Graubünden 193.388 Einwohnerinnen und Einwohner, davon sprechen 68 Prozent Deutsch, 15 Prozent Rätoromanisch, 10 Prozent Italienisch und 7 Prozent andere Sprachen.[1] Darüber hinaus leben laut Volkszählung inzwischen ca. 15.000 Rätoromanen in anderen Schweizer Kantonen.
Während die Schweizer Bundesregierung und der Kanton Graubünden sich intensiv um die Förderung des Rätoromanischen bemühen (s.u.) geht dennoch die Zahl der rätoromanischen Muttersprachler ständig zurück. Bei der Schweizer Volkszählung von 1990 gaben 66.356 Menschen Romanisch als regelmäßig gesprochene Sprache an, davon bezeichneten sie 39.632 als Hauptsprache. Im Jahre 2000 gaben nur noch 35.095 Romanisch als Hauptsprache an.[2]
2. Sprache
Die rätoromanischen Idiome in der Schweiz gehören  zur Gruppe der romanischen Sprachen. Über ihre Entstehung aus dem Vulgärlatein → 3.09.  Aufgrund der Abgeschiedenheit in den Rückzugsgebieten der Alpen Graubündens haben sich in der Vergangenheit viele örtliche Mundarten herausgebildet, die zum Teil erheblich voneinander abweichen. Von der Sprachwissenschaft werden sie in fünf Sprachvarianten eingeteilt, für die sich ab dem 16. Jahrhundert auch jeweils eigene Schriftnormen entwickelt haben (→ Geschichte). Diese schriftsprachlichen Normen täuschen allerdings darüber hinweg, dass im alltäglichen, umgangssprachlichen Gebrauch oft erhebliche Unterschiede bestehen, die sich aus der geografischen Lage und den geschichtlichen und kulturellen Einflüssen ergeben haben. Z. B. ist  im Norden ein starker deutscher/alemannischer Einfluss festzustellen, im Süden (Engadin) hingegen ein italienischer.  Einen Überblick über die 5 Sprach-Varietäten, ihre geografische Lage und die Zahl der Sprecher  geben die nachfolgende Tabelle[3] und 2 Karten:





Tabelle 1: Übersicht über die rätoromanischen Sprach-Varietäten in Graubünden / CH
Lage - Gebiet Name der rätorom. Sprach-Variante Sprecher 1990
bestbeherrschte
Sprache
Gesamt-
bevölkerung
dieses Gebiets
Vorderrheintal
Bündner Oberland
Surselvisch =
sursilvan
14.614 30.376
Hinterrheintal Sutselvisch =
sutsilvan
778 6.494
Oberhalbstein
Albulatal
Surmeirisch =
surmiran
2.461 6.275
Oberengadin Puter = puter 2.798 15.879
Unterengadin
Münstertal*
Vallader =
vallader*
5.243 7.756

* Im Münstertal wird der romanische Dialekt Jauer gesprochen, der jedoch keine   schriftsprachliche Tradition hat. In den Münstertaler Schulen wurde bis zur Einführung von Rumantsch Grischun in Unterengadinisch (Vallader) unterrichtet. Putér und Vallader werden von den Romanen auch als Rumantsch Ladin zusammengefasst und in der Hymne Chara lingua da la mamma besungen („chara lingua da la mamma, tü sonor rumantsch ladin...“).




Aus der Tabelle ergibt sich, dass die rätoromanischen Idiome in den Bereichen Vorderrhein/Bündner Oberland (Surselvisch) und Unterengadin/Münstertal (Vallader) am vitalsten sind, während im Hinterrheintal (Sutsilvan) und im Oberengadin (Puter) die größte Gefährdung für den Fortbestand der regionalen rätoromanischen Sprache besteht.

Die Zersplitterung stellt ein großes Problem für den Bestand des Rätoromanischen dar. In der Vergangenheit wurden viele Versuche unternommen, eine einheitliche Schriftsprache für alle Rätoromanen der Schweiz zu entwickeln, dies scheiterte aber stets daran, dass eine Variante bevorzugt wurde. Schließlich hat der rätoromanische Dachverband Lia Rumantscha (s.u.) erkannt, dass in einer Zeit zunehmender Mobilität und Vernetzung mit digitalen Medien eine Einheitssprache für das Überleben des Rätoromanischen eine dringende Notwendigkeit war. Er beauftragte 1981 den nichtromanischen Linguisten  Heinrich Schmidt (1921 –1999) mit  dieser Aufgabe und Heinrich Schmidt schuf in relativ kurzer Zeit das Rumantsch Grischun. Heute kann man sein Werk als Erfolgsgeschichte verbuchen. Während bis Mitte der 2000er Jahre die Schulbücher im Kanton Graubünden in Deutsch, Italienisch und in allen 5 rätoromanischen Schriftdialekten erschienen, werden sie seit 2005 erstmals nur noch in drei Sprachen herausgegeben, neben Deutsch und Italienisch auch in Rumantsch Grischun.

Geschichte
Die Geschichte der Rätoromanen in der heutigen Schweiz habe ich in der folgenden Übersicht nach wichtigen Daten der Geschichte zusammengefasst.[4]

Bronzezeit bis zur Zeitenwende:
                               Das Volk der Räter bewohnt die Alpentäler (→3.09), kommt früh mit den Illyrern in Kontakt und hat bis zur Zeitenwende viele keltische Einflüsse aufgenommen.
15 v. Chr.                    Die Römer unter Drusus und Tiberius unterwerfen die rätischen Stämme der Alpen (→3.09). In der Folge entsteht die römische Provinz Raetia prima, der neben dem heutigen Graubünden und großen Teilen der heutigen Schweiz  auch Teile Tirols und Vorarlbergs angehören. Verwaltungssitz ist Chur (Curia Raetorum)
ca. 100 – ca. 450                    Die Gebiete der Raetia prima werden romanisiert, es entsteht ein rätolatein oder vulgärlatein, aus dem in der Folge die rätoromanischen Dialekte entstehen. Nach der konstantinischen Wende erfolgt schrittweise eine Christianisierung des Gebiets.
ca. 470 - 600          Eindringen der Alemannen in die heutige Schweiz und der Bajuwaren über den Brenner nach Süden. Dadurch wird die Verbindung der rätoromanischen Gebiete in der heutigen Zentral- und Ostschweiz zu den romanischen Sprachen im Westen (Gallien) und Osten (Südtirol, Friaul) unterbrochen. Schließlich geht auch die Verbindung nach Süden hin durch das Vordringen der Langobarden (ab 568) verloren. Um 536/537 fiel Rätien (das Gebiet der ehemaligen Provinz Raetia prima) an das Fränkische Reich
ca. 800                     Karl der Große teilt Rätien in mehrere Gaue auf, darunter Churrätien, das sich mit dem heutigen Graubünden + Vorarlberg deckt. Beginn des germanischen Einflusses.
843                    Das Bistum Chur orientiert sich nach Norden, trennt sich von der Erzdiözese Mailand  und wird in das Erzbistum Mainz eingegliedert.
916                    Vereinigung des Berglands der ehemaligen Provinz Raetia prima mit dem erneuerten Herzogtum Alemannien, Beginn einer starken germanischen Einflussnahme auf dieses Gebiet.
ab ca.1200                     Einwanderung von Walsern und Kolonisierung z. T. gering bewohnter Berggebiete. Sie leiten die weitere Germanisierung Graubündens ein. Sie erhielten zudem als ins Land gerufener Siedler gewisse Sonderrechte, die zu einer neuen Bewusstseinsbildung führten.
1367                    Beginn eines eigenen politischen Bewusstseins mit der Gründung von Volksbünden. 1367 wurde der Gotteshausbund gebildet (Chur, Engadin, Domleschg, Oberhalbstein, Bergell), 1395 folgt der Graue Bund (Oberrheintal) und 1436 der Zehngerichtebund. Diese Bünde fanden sich ab 1450 zu einem eigenständigen staatlichen Gebilde zusammen (Freistaat der Drei Bünde). Die Bünde wurden durch verschiedene Verträge (seit 1497) gleichberechtigter Partner der schweizerischen Eidgenossenschaft (formell als Zugewandter Ort).
1464                    Nach einem Großbrand wird Chur von alemannischen Handwerkern wieder aufgebaut und danach fast vollständig germanisiert. Chur, der bisherige Mittelpunkt geht für das rätoromanische Sprachgebiet praktisch verloren.
1524                    Engerer Zusammenschluss der drei Bünde durch eine Bundesbrief. Das Deutsche wird zur Hauptkanzleisprache.
1525 -1699                    Im 16./17. Jh. Verschriftlichung des Romanischen, jedoch jeweils für die verschiedenen Idiome. Die entscheidenden Impulse für die Schaffung einer literarischen Sprache erfolgen durch die Reformation und die katholische Gegenreformation.
1794                    Die Verfassung des rätischen Freistaats legt vier Amtssprachen fest: Deutsch, Italienisch, romanisch und ladinisch, d. h. man behandelte die beiden wichtigsten Ausprägungen des Rätoromanischen als verschiedene Sprachen. Während der europäischen Wirren nach der französischen Revolution kann sich der Freistaat zunächst neutral verhalten, als „Gegenleistung“ führt er auch noch das französische als zusätzliche Amtssprache ein.
1803                         Die bündnerischen Gebiete fielen 1797 an die Cisalpinische Republik. 1799/1800 kam das verbliebene Gebiet als Kanton Rätien zur Helvetischen Republik, 1803 als 15. Kanton Graubünden zur Schweizerischen Eidgenossenschaft
1815 - 1899                    Im 19. Jh. führen die verkehrstechnische Erschließung der Bergregionen und der aufblühende Fremdenverkehr  zu einer Gefährdung des Romanischen. Die Romanen betrachten ihre Sprache als wirtschaftliches Hindernis. Verschiedene Persönlichkeiten rufen die Romanen jedoch zur Verteidigung ihrer Sprache auf. Diese Reaktion leitet die sogenannte «Rätoromanische Renaissance» (Neubesinnung auf die Werte der romanischen Sprache) ein.
1880                  In der bündnerischen Verfassung werden Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch als gleichberechtigte Sprachen festgelegt. Das während der Napoleonischen Zeit eingeführte Französisch wurde längst wieder fallen gelassen. In der Modifizierung von 1892 heißt es: „Die drei Sprachen sind als Landessprachen gewährleistet“. Das Rätoromanische wurde damit als Verwaltungs-, Gerichts-, Schul- und Kirchensprache anerkannt.
1919                    Gründung der Lia Rumantscha als Dachorganisation aller romanischen Vereine. Tochtervereine der Lia Rumantscha sind die regionalen romanischen Vereine Graubündens, überregionale Vereine mit besonderen Zwecken und romanische Vereine außerhalb Graubündens.
1925                    erste Radiosendungen von Radio Rumantsch (RR) in rätoromanischer Sprache. Im Laufe der Jahrzehnte hat der 1954 verstaatlichte Sender seine Sendezeit kontinuierlich erweitert. Seit Februar 2008 sendet die Radiostation ein 24stündiges Programm aus.
1938                    Volk und Stände der Schweiz anerkennen das Romanische als «Nationalsprache» der Schweiz.
1963                    erste Fernseh-Sendung in rätoromanischer Sprache. Heute sendet Televisiun Rumantscha (TvR) seine Beiträge in rätoromanischer Sprache über das Schweizer Fernsehen SF 1, so den Telesguard (Tagesschau) von Montag bis Samstag und die Cuntrasts am Sonntag. Die Sendungen werden jeweils auf Deutsch über den Teletext untertitelt.
1980-1981        Die Lia Rumantscha erarbeitet ein umfangreiches neues Konzept zur Erhaltung und Förderung der romanischen Sprache und Kultur.
1982                    Prof. Heinrich Schmid (1921 – 1999) von der Universität Zürich erarbeitet die «Richtlinien für die Gestaltung einer gesamtbündnerromanischen Schriftsprache, das  Rumantsch Grischun».
1996                    Das Romanische wird zur Teilamtssprache des Schweiz erhoben. Die Regierung Graubündens beschließt, das Rumantsch Grischun zur offiziellen Amtssprache zu erheben.
2005             wurden die Schulbücher im Kanton Graubünden erstmals nur noch in drei Sprachen herausgegeben. Bis Mitte der 2000er Jahre erschienen diese in Deutsch und Italienisch, aber auch jeweils noch in allen 5 rätoromanischen Schriftdialekten. Heute wird nur noch Rumantsch Grischun als Sprache der Schulbücher verwendet.

Zukunft der Rätoromanen / Bündnerromanen 
Um die Dreisprachigkeit als zentrales Merkmal Graubündens und seine sprachliche Vielfalt zu erhalten, fördert der Kanton die Minderheitensprachen Rätoromanisch und Italienisch in besonderer Weise. Aufgrund dieser Zielsetzung entstand das Sprachengesetz von 2008.[5] Mit diesem Gesetz wird der Gebrauch der drei kantonalen Amtssprachen Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch geregelt und es werden Maßnahmen festgelegt, mit denen die kantonalen Minderheiten-Sprachen Rätoromanisch und Italienisch gefördert werden sollen. Im Gesetz ist festgelegt, dass Gemeinden mit einem Anteil von mindestens 40 Prozent von Angehörigen einer angestammten Sprachgemeinschaft als einsprachige Gemeinden gelten. In diesen ist die angestammte Sprache kommunale Amtssprache. Gemeinden mit einem Anteil von mindestens 20 Prozent von Angehörigen einer angestammten Sprachgemeinschaft gelten als mehrsprachige Gemeinden. In diesen ist die angestammte Sprache neben der Mehrheitsprache eine der kommunalen Amtssprachen. Für die Festlegung des prozentualen Anteils einer Sprachgemeinschaft werden die  Ergebnisse der jeweils letzten eidgenössischen Volkszählung zu Grunde gelegt. Auf dieser Basis werden der Gebrauch der Amtssprachen bei Gericht und im Unterricht der Schulen festgelegt. Zusätzlich wurden 2008 in einer Sprachenverordnung die verschiedene Bestimmungen des Sprachengesetzes konkretisiert, z.B. der Gebrauch der Amtssprachen durch die kantonalen Behörden und die Festlegung notwendiger Übersetzungen im amtlichen Bereich.
Die Lia Rumantscha als Dachorganisation aller rätoromanischen Vereine hat inzwischen ihre Zielsetzung geändert. Lange Zeit hatte man die Zweisprachigkeit Romanisch-Deutsch als Gefahr empfunden, zum einen für die Reinheit der Muttersprache Romanisch, zum anderen als Zwischenstufe auf dem Weg der Verdeutschung. Inzwischen liegt der Fokus auf dem Gebrauch der  romanischen Sprache in den Familien, auf der Bildungspolitik, auf der Förderung der Zwei- und Mehrsprachigkeit und des Zusammenlebens zwischen den verschiedenen Sprachgemeinschaften des Kantons Graubündens.  Sie sieht ihre Aufgabe darin, das jahrhundertealte Nebeneinander von Romanisch, Italienisch und Deutsch als sinnvoll und kulturell bereichernd zu propagieren.[6]
Diese Zielsetzung ist realistisch an den Gegebenheiten der heutigen Vernetzung und der wirtschaftlichen Interessen der Bevölkerung orientiert. Zusammen mit einem guten Unterricht in der Muttersprache und Zweitsprache bietet sie gute Chancen für einen langfristigen Bestand des Rätoromanischen.





[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Bündnerromanisch

[4] Dabei habe ich insbesondere folgende Quellen ausgewertet:
a)     Erwin Diekmann: „Das Rätoromanische in der Schweiz“ in „Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten“  
b)     René Neuenschwander: Die rätoromanische Volksgruppe im  Schweizer Kanton Graubünden“ in „Handbuch der europäischen Volksgruppen“ ab S. 180
[5]    http://www.gr.ch/DE/kanton/ueberblick/Seiten/Dreisprachigkeit.aspx
[6]http://www.liarumantscha.ch/sites/portraet/die_lia_rumantscha_auf_einen_blick.html





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