2.33 Ungarn, Magyaren

Im Mai 2016 überarbeitete und um die Punkte 5a) und 5b) ergänzte Fassung


1. Vorwort – Einführung

Nach dem Wahlsieg der national-konservativen Fidesz-Partei mit dem Ministerpräsidenten Viktor Orban im Jahre 2010, der 2014 im gleichen Umfang wiederholt werden konnte, verfolgt die ungarische Regierung einen ausgeprägt nationalistischen und teilweise undemokratischen Kurs. Angetrieben wird sie dabei zusätzlich von der extrem-nationalistischen Jobbik-Partei, die über 20 % der Stimmen erreichte. Davon betroffen ist vor allem die Roma-Minderheit in Ungarn. Probleme gibt es aber auch mit den Nachbarstaaten wegen der dort lebenden ungarischen Minderheiten. 

Dazu muss man wissen, dass es in Ungarn nach wie vor  ein Trianon-Trauma gibt. Während in Deutschland in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ein Versailles-Trauma herrschte, weil man den Friedensvertrag und die damit verbundenen Gebietsverluste als ungerecht empfand, ist Versailles bei uns heute kein Thema mehr, sicherlich aufgrund der viel größeren Belastungen und Gebietsverluste nach dem 2. Weltkrieg und der Vertreibung vieler Deutscher aus ihren Siedlungsgebieten im ehemaligen deutschen Osten und  in Osteuropa. Anders in Ungarn, denn im Friedensvertrag von Trianon, den es als Verlierer des 1. Weltkriegs 1920 unterzeichnen musste, hat Ungarn damals mehr als zwei Drittel seines vorherigen Staatsgebietes verloren.[1]  (weitere Hinweise siehe unter Lage und Zahlen und Geschichte) Dabei missachteten die Siegermächte in besonders eklatanter Weise das von ihnen selbst propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, denn  Ungarn musste nicht nur von anderen Volksgruppen besiedelte Gebiete abtreten, sondern auch Territorien mit  geschlossener oder überwiegender ungarischer Bevölkerung. Seitdem leben mehrere Millionen ethnischer Ungarn als Minderheiten in den Nachbarstaaten, was die aktuelle Regierung immer wieder zu besonderen Aktionen für ihre Landsleute veranlasst und was dann häufig zu Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten führt. Dazu mehr unter Ungarische Volksgruppen in den Nachbarstaaten. 

2. Lage und Zahlen - Minderheiten in Ungarn

Die Lage des heutigen Ungarns ist aus der nachstehenden Grafik ersichtlich (grüne Fläche). Gleichzeitig gibt diese Karte eine geschichtliche Übersicht über das ungarische Staatsgebiet vor 1918 und die im Frieden von Trianon abgetretenen Gebiete (blaue Flächen):


Das heutige ungarische Staatsgebiet umfasst eine Fläche von 93.030 qkm und hat 9,94 Millionen Einwohner (2011), davon 1,73 Mio. in der Hauptstadt Budapest. 92 % der Bevölkerung sind  ethnische Ungarn. Gemäß der Volkszählung 2011 gibt es eine Anzahl ethnischer Minderheiten, darunter ca. 186.000 Ungarndeutsche und ca.  316.000 Roma. Außerdem noch Slowaken, Kroaten, Serben, Slowenen, Polen, Griechen, Armenier, Bulgaren, Rumänen, Ruthenen und Ukrainer.

3. Geschichte

Vor 830 findet man in keiner europäischen Chronik einen Hinweis auf die Magyaren. Finn-Ugrische Volksgruppen (der byzantinische Kaiser Konstantin VII erwähnt 7 magyarische Stämme) lebten ursprünglich in Sibirien und ließen sich zunächst ab ca. 800 in der südrussischen/südukrainischen Steppe nieder. Seit dem Ende des 9. Jahrhunderts drangen diese magyarischen Stämme nach Europa ein und siedelten sich im Bereich des sogenannten Pannonischen Beckens – der ungarischen Tiefebene – an.  Nach den Chroniken war es der Großfürst Árpád, der die ungarischen Stämme nach 895 einte und die dort lebenden germanischen, slawischen und dakoromanischen Volksgruppen  in relativ kurzer Zeit assimilieren konnte. Árpad war der Namensgeber der ersten ungarischen Herrscherfamilie der Árpáden, die bis 1301 Ungarn regierten. Nach der Ansiedlung in der ungarischen Tiefeben  unternahmen die Magyaren im 10. Jahrhundert viele Raubzüge in ganz Europa. 955 wurden sie von ostfränkischen und verbündeten Truppen unter Otto dem Großen auf dem Lechfeld entscheidend geschlagen. Eine Wende trat um die Jahrtausendwende ein. Der Großfürst  Vajk (geb. 975 bei Gran, gest. 1038 in Buda) hatte sich 985 zusammen mit seinem Vater Géza auf den Namen Stefan taufen lassen. Während der Großfürst Géza trotz der Taufe im Grunde Heide blieb, erhielt Stefan eine christliche Erziehung und heiratete die bayrische Herzogstochter Gisela, eine Schwester des späteren Kaisers Heinrich II. Stefan wurde Christ aus Überzeugung und ließ bei seinen Landleuten vor allem durch deutsche Ordensleute das Evangelium verkünden. 1001 wurde er als Stefan I durch eine von Papst Sylvester II verliehene und übersandte Krone zum König von Ungarn gekrönt. Der Papst verlieh ihm auch den Titel "Apostolischer König", ein Titel, den die folgenden Könige aus dem Hause Árpád und alle Nachfolger als Träger der heiligen Stephanskrone bis 1918 mit Stolz trugen. Die Lebensleistung Stefans, der später heilig gesprochen wurde, war die Integration seines bis dahin halb nomadischen Volkes als anerkannter Bestandteil in das christliche Europa.[2]   1081 wurde Kroatien samt Dalmatien in Personalunion mit Ungarn verbunden. Nach Einfällen und einer Besetzung Ungarns durch die Mongolen in der Mitte des 13. Jahrhunderts folgten Jahre des Aufschwungs, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit der Regentschaft von Matthias Corvinus seinen Höhepunkt erreichte. Zeitweise waren die Könige von Ungarn auch gleichzeitig Könige von Polen. Darnach folgten Auseinandersetzungen mit den Osmanen, die große Teile Ungarns besetzen oder in Abhängigkeit bringen konnten. Das Land war bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dreigespalten: Der westliche und nördliche Teil ging an die Habsburger, in der Mitte herrschte der osmanische Sultan und lediglich Siebenbürgen konnte zwischen Habsburg und den Osmanen eine weitgehende Unabhängigkeit bewahren.  Nach der vergeblichen osmanischen Belagerung Wiens (1683) und der Eroberung Budas (1686) durch kaiserliche Truppen fiel Ungarn an die Habsburger, die damit über weite Teile des ungarischen Königreichs herrschten. Habsburg gewährte den Ungarn jedoch weitgehende Autonomie,  In der ungarischen Verfassung wurde die Unteilbarkeit der Habsburger Lande festgeschrieben, den Ungarn wie auch Siebenbürgen eine Eigenständigkeit innerhalb der Monarchie mit einem ständischen Landtag zugesichert.[3]
Nachdem schon ab 1150 in Siebenbürgen Siedler aus deutschen Landen ansiedelten, wurden nach dem Sieg über die Osmanen weitere deutsche Siedler  in das teilweise entvölkerte Land gerufen, die sich vor allem im Banat und im Sathmarer Bereich niederließen. Ausführliche Hinweise zu diesen deutschen Siedlern siehe unter Deutsche Volksgruppe(n) in Rumänien.
Im 19. Jahrhundert erwachte im Zeitalter der Romantik auch in Ungarn der Nationalstolz und damit verbunden der Wille nach Unabhängigkeit von den Habsburgern. Ein Aufstand nach der Revolution von 1848 wurde durch österreichische Truppen, unterstützt von Russland, niedergeschlagen. Nach der Niederlage Österreichs im deutsch-deutschen Krieg von 1866 mussten die Habsburger jedoch den Ungarn entgegenkommen und es kam 1867 zum sogenannten Österreichisch-Ungarischen Ausgleich. Die Katastrophe von Königsgrätz hat verbunden mit dem nationalistischen Zeitgeist das letzte abendländische Universalreich zerstört. Das Habsburger Reich wurde praktisch in eine dualistische Föderation zweier Territorialstaaten umgewandelt (eine österreichische und eine ungarische Reichshälfte), die nur durch die Krone Habsburgs verbunden blieben. (Siehe obige Karte). Nachdem das Banat schon 1860 mit Ungarn vereint wurde, endete 1868 die Eigenständigkeit Siebenbürgens. Die ungarische Regierung gestand im gleichen Jahr lediglich Kroatien-Slawonien als selbständigem Königreich innerhalb der ungarischen Reichshälfte eine gewisse Eigenstaatlichkeit zu. Die im  gesamten übrigen ungarische Reichsteil lebenden Minderheiten, vor allem Deutsche, Slowaken und Serben, waren nun bis zum Ende des 1. Weltkriegs einer verhängnisvollen Magyarisierungspolitik ausgesetzt. Von der französischen Revolution übernahm man die These, dass es in einem Staat nur eine Nation mit einer Kultur und einer Sprache geben solle. Mit allen Mitteln betrieb Ungarn eine Madyarisierungspolitik, die darauf abzielte, die beherrschten nichtmagyarischen Bevölkerungsteile kulturell und physisch einzuschmelzen. Dies stand jedoch ganz im Gegensatz zum Staatsgründer König Stephan den Heiligen, auf den sich die Ungarn sonst gerne beriefen, der seinen Sohn Emerich ermahnte alle Bürger Ungarns müssten in ihrer Sprache und Sitte respektiert werden.(3a)

Die Niederlage der Mittelmächte im 1. Weltkrieg traf Ungarn sehr hart. Am 31. 10. 1918 erklärte Ungarn den Austritt aus der Union mit Österreich, drei Tage vor dem Waffenstillstand, der die Kämpfe zwischen Österreich-Ungarn und  den Entente-Mächten beendete. Darauf erklärte König Karl IV (Kaiser Karl I von Österreich) am 13. 11. 1918 seinen Verzicht auf seine Rechte in  Ungarn. Nun wurde unter Führung von Graf Karolyi die ungarische Republik ausgerufen. Er hoffte – wie Deutsche und Österreicher – auf den amerikanischen Präsidenten Wilson und das von diesem verkündete Selbstbestimmungsrecht der Völker. Aufgrund der faktischen Territorialverluste musste er jedoch am 21. 3. 1919 zurücktreten.
Denn bereits Im Juli 1918 hatte sich in Paris ein Nationalrat der Tschechen und Slowaken gegründet, der am 28. 10. 1918 die Tschechoslowakische Republik ausrief. Kroatien und Slawonien gründeten am 5. 10. 1918 den Nationalrat der Serben,  Kroaten und Slowenen, der keine Weisungen aus Budapest mehr annahm und sich am 30. 10. 1918 zum Bestandteil des neuen südslawischen SHS-Staates (später Jugoslawien) erklärte. Auch die Nationalversammlung der Vojvodina beschloss am 25. 11. 1918 den Anschluss an Serbien.  Die Rumänen in Siebenbürgen sprachen sich am 1. 12. 1918 in den Karlsburger (Alba Julia) Beschlüssen für die Vereinigung mit dem Königreich Rumänien aus. Auch Versammlungen der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben entschieden sich 1919 für den Anschluss ihrer Gebiete an Rumänien, zumal man ihnen und den Ungarn in den Karlsburger Beschlüssen weitgehende Minderheitenrechte zugestanden hatte (die später allerdings nicht eingehalten wurden).
Nachfolger Karolyis wurde der Kommunist Bela Kun, der eine ungarische Räterepublik ausrief und versprach die alten nationalen Grenzen wiederherzustellen. Nachdem Verhandlungen scheiterten suchte Kun sein Heil in einer militärischen Lösung und begann einen Krieg gegen Rumänien und die Tschechoslowakei. Aber auch damit hatte Kun keinen Erfolg. Die im Januar 1920 gewählte Nationalversammlung wählte am 1. 3. 1920 Miklos Horthy zum Reichsverweser. Unter seiner Regierung  musste Ungarn am 4. 6. 1920 im Friedensvertrag (Diktat) von Trianon alle  oben angeführten  Gebietsabtretungen anerkennen, dazu weitere kleinere Gebiete, wie das heutige Burgenland an Österreich, die Stadt Fiume (Rijeka) an Italien und ein Kleines Gebiet im Norden an Polen.[4]
Die Ungarn waren über dieses Friedensdiktat schockiert und es begann das von mir bereits angesprochene ungarische Trianon-Trauma. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts mussten die Schüler jeden Morgen folgendes Gebet sprechen: „Ich glaube an einen Gott, ich glaube an eine Heimat, ich glaube an die unendliche göttliche Wahrheit, ich glaube an die Auferstehung Ungarns!“ Fairerweise muss man allerdings einräumen, dass es in Mittel-/ Osteuropa nie klare ethnische Grenzen gab und so beschreibt der ungarische Philosoph und Volkskundler Mihali Vajda das schier unlösbare Problem wie folgt:„Es gibt keine gerechten Grenzen…. Natürlich waren die Grenzen des Versailler (Trianon-) Vertrags absolut ungerecht, doch wenn wir das sagen, müssen wir uns darüber im klaren sein, dass wirklich gerechte Grenzen gar nicht gezogen werden können.“[5]
Zwischen den beiden Weltkriegen verfolgte keine der neuen Staaten mit ungarischen Minderheiten eine vorbildliche oder auch nur zufriedenstellende Nationalitätenpolitik. Das veranlasste viele Auslands-Magyaren zur Übersiedlung nach Ungarn, wo sie national-chauvinistischen Kräften Verstärkung gaben. Daher arbeitete die Regierung Ungarns  in der Zwischenkriegszeit auf eine Revision der Grenzen hin. Um das zu erreichen kam es zur Annäherung an das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien. In den sogenannten Wiener Schiedssprüchen von 1938 und 1940 wurden die Grenzen von Trianon im Sinne Ungarns korrigiert und Ungarn trat an der Seite der Achsenmächte in den 2. Weltkrieg ein. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs, der Besetzung Ungarns durch die Sowjet-Union und der Errichtung einer von den Sowjets abhängigen kommunistischen Regierung musste Ungarn im Friedensvertrag von Paris am 10. 1. 1947 anerkennen, dass die Wiener Schiedssprüche von Anfang an ungültig waren und die Grenzen von Trianon nach wie vor gültig bleiben.
1956 erhoben sich die Ungarn im Volksaufstand gegen die von der Sowjet-Union abhängige Regierung. Der Aufstand wurde jedoch blutig niedergeschlagen und viele Ungarn flohen in das westliche Ausland. Dennoch konnte Ungarn in der Folgezeit zumindest auf dem Gebiet der Wirtschaft einen liberaleren Kurs steuern, so dass sich Ungarn im Wendejahr 1989 in einem „reiferen“ Zustand als andere Ostblockländer befand. Das erleichterte eine schnelle Umstellung auf das marktwirtschaftliche System und die Integration in die demokratischen westlichen Systeme. Seit 1999 ist Ungarn Mitglied der NATO und seit dem 1. 5. 2004 Mitglied der Europäischen Union.

4. Sprache

Die ungarische Sprache gehört zum finnisch-ugrischen Zweig der uralischen Sprachfamilie. Neben dem Finnischen und Türkischen ist sie damit eine der wenigen europäischen Sprachen, die nicht zur indo-europäischen Sprachfamilie gehören. Für Indoeuropäer ist sie daher schwer erlernbar. Das Ungarische ist heute die bedeutendste Sprache des ugrischen Zweigs der Sprachfamilie. Am nächsten verwandt  mit ihr sind das Chantyisch (frühere Bez. Ostjakisch) und das Mansisch (frühere Bez. Wogulisch), die von weit verstreuten Volksstämmen in Sibirien gesprochen werden, im Gegensatz zum Ungarischen aber nie zu Staatssprachen wurden. Die finnisch-ugrischen Sprachen haben sich im Laufe ihrer Entwicklung in ihrem grammatischen Bau, ihrem Wortschatz und ihrem Lautstand weit voneinander entfernt.
Auf dem langen Weg der Ungarn von Sibirien nach Europa in das Pannonische Becken, wo sie sich Anfang des 10. Jahrhunderts niederließen, wurde die Sprache vor allem durch viele Begriffe der Turksprachen beeinflusst. Nach der Christianisierung durch slawische und deutsche Mönche fanden slawische, lateinische und germanische Begriffe Eingang in die ungarische Sprache. Seit dem Mittelalter wurde Ungarisch besonders durch die deutsche Sprache beeinflusst, da sich besonders in den Städten viele Deutsche niedergelassen hatten. Durch die lange Herrschaft der Habsburger wurde dieser Effekt noch verstärkt. Nach vielen Kriegen und langer türkischer Fremdherrschaft kam es Ende des 18. Jahrhunderts  zu einer nationalen Rückbesinnung mit einem neuen Kult der Sprache. Nachdem Herder 1791 noch das baldige Verschwinden des Ungarischen vorausgesagt hatte, ging man mit schöpferischem Elan eine Reform des Ungarischen an. Man schuf unzählige neue Wörter durch Entlehnungen und Nachbildungen des Deutschen, durch Neubelebung einheimischer Wurzeln und Wiederbelebung ungebräuchlich gewordener Begriffe. Das unter Geschichte bereits erwähnte wichtige Jahr 1867 brachte die entscheidende Wende von einer weitgehend unterdrückten Sprache zum offiziellen Kommunikationsmittel eines multinationalen Staates. Die Staatsmacht begann nun den bereits erwähnten Druck zur Magyarisierung  auf die von ihr abhängigen Untertanen auszuüben, eine Epoche die dann nach dem verlorenen 1. Weltkrieg wieder umschlug in nationale Depression und das erwähnte Trauma von Trianon.[6]

5. Ungarn in Nachbarstaaten


Als Folge von Trianon (s. o.) leben mehrere Millionen Ungarn als Minderheiten in den Nachbarstaaten. Die folgende Karte gibt eine Überblick über Lage und ungefähre Zahlen dieser Minderheiten:



Bereits in der Revision der Verfassung vom 23. 10. 1989 wurde das Verhältnis Ungarns zu seinen Landsleuten im benachbarten Ausland neu definiert. § 6 Abs. 3 lautet: „Die Republik Ungarn empfindet Verantwortung für das Schicksal der jenseits ihrer Grenzen lebenden Ungarn und fördert die Pflege ihres Kontakts mit Ungarn.“ In der Folge versuchten die ungarischen Regierungen durch bilaterale Verträge mit den Nachbarstaaten die Lage der ungarischen Volksgruppen zu verbessern. Etwa ab 1998 nach dem Amtsantritt der ersten Regierung Orban änderte Ungarn seine Politik und ergriff einseitige Maßnahmen zu Gunsten der Auslands-Ungarn. Dies führte zu manchen Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten.[7]

5a) Die ungarische(n) Volksgruppe(n) in Rumänien

Ähnlich der Situation der Deutschen in Rumänien, mit denen die Ungarn seit Jahrhunderten verbunden lebten - siehe meinen Post Die deutschen Volksgruppen in Rumänien- erging es auch den Ungarn nach den Friedensschlüssen von 1920, nur traf es sie noch stärker und härter. Zum einen waren sie vorher das Staatsvolk im ungarischen Teil der Habsburg-Monarchie und ihre Zahl war noch erheblich größer, als die der deutschen Volksgruppen. Ähnlich den Deutschen waren die Ungarn vorher auch keine einheitliche Gruppe, sondern man muss drei wesentliche Bereiche unterscheiden (siehe Karte):

 - Ungarn im grenznahen Bereich zum Mutterland, u. a. im Banat

 - Ungarn und Szekler in Siebenbürgen

 - Ungarn / Csángòs im Bereich Moldau

Die ungarisch sprechenden Szekler leben seit dem 12. Jahrhundert in Siebenbürgen. Ihre Herkunft und Abstammung ist umstritten, man vermutet eine Abstammung von Turkvölkern. Tatsache ist allerdings, dass sie nach ihrer Ansiedlung unter König Andreas II in Siebenbürgen bereits die ungarische Sprache angenommen hatten. Die Szekler waren neben Ungarn und Deutschen (Siebenbürger Sachsen) eine der privilegierten Nationen in Siebenbürgen, d. h. sie waren von Abgaben befreit, hatten in Recht und Verwaltung weitgehende Autonomie, mussten dafür aber militärische Dienste leisten. Lange betrachteten sich die Szekler als eigenständige Volksgruppe, deren eigenständigen Rechte von den Habsburgern aber Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft wurden. Erst seit der Romantik und dem nationalen Erwachen im 19. Jahrhundert begannen die Szekler sich als Ungarn zu definieren. Allerdings verstehen sich auch heute noch viele Szekler als eigenständige Volksgruppe, denn bei der Volkszählung 2002 bezeichneten sich 670.000 der insgesamt 1,4 Millionen in Rumänien lebenden Ungarn als Szekler.(8)

Die unbefriedigende Lage der Minderheiten in Rumänien nach 1920 habe ich bereits bei der deutschen Minderheit beschrieben, die letztlich gescheiterte Politik des Revisionismus ebenso. Nach dem Pariser Frieden von 1947 wurde unter sowjetischem Druck die nationale Frage totgeschwiegen, dennoch hat Ungarn seine Volksgruppen in den Nachbarstaaten nicht vergessen, insbesondere die rumänische Assimilationspolitik unter Ceausescu hat  zu einer Solidarisierung mit den Ungarn in Rumänien geführt und zeitweise zu Spannungen zwischen den sozialistischen Bruderstaaten (siehe z. B. FAZ vom 22. 12. 1984: „Schlechte Beziehungen Budapest-Bukarest“ u. a.). Auch nach der politischen Wende und dem Ende des Ceausescu-Regimes tat sich Rumänien weiter schwer mit seinen Minderheiten. Die neue Verfassung von 1990 schrieb weiterhin Rumänien als einheitlichen und unteilbaren Nationalstaat fest. Erst durch Druck des Europarats, in den Rumänien 1993 aufgenommen wurde, kam es zu einem Minderheitengesetz, dessen Umsetzung aber lange verzögert wurde. Inzwischen hat sich die Lage etwas entspannt. Die Ungarn können wieder ihre Kinder in ungarische Schulen schicken, in den Kirchen ist ungarisch ebenso wieder selbstverständliche Predigtsprache. Es gibt in Siebenbürgen zahlreiche ungarische Chöre und Volkstanzgruppen, sieben ungarische Theater und eine ungarische Oper in Klausenburg. Neben ungarischen Zeitungen und Zeitschriften gibt es auch im rumänischen Staatsfernsehen ungarische Sendungen und per Satellit können Fernsehprogramme aus Ungarn empfangen werden. Auch in der Politik ist die ungarische Minderheit über ihre Partei, die Demokratische Union der Ungarn, gut vertreten. Zeitweise stellte sie den stellvertretenden Ministerpräsidenten. Dazu hat sich seit einigen Jahren eine Ungarische Bürgerpartei etabliert, die die Interessen der Ungarn nach wie vor (und das sicher nicht zu unrecht) stiefmütterlich behandelt sieht. Insbesondere ist man unzufrieden, dass die ungarische Sprache nach wie vor als zusätzliche Amts- und Gerichtssprache nicht akzeptiert wird. Immer wieder gibt es Forderungen der ungarischen Minderheit nach einer Autonomie. So kam es im Oktober 2013 zu einer Großdemonstration der in Rumänien lebenden Ungarn. U.a. bildeten mehr als 100.000 Ungarn eine 54 km lange Kette zwischen zwei ungarischen Dörfern und in Bukarest und anderen Städten kam es zu Protestkundgebungen, die vom ungarischen Mutterland und dem rechtsnationalen Ministerpräsidenten Orban unterstützt wurden.(9)

Besonders schlecht ist die Situation der Ungarn im altrumänischen Moldau-Distrikt. Die dort lebenden sogenannten Csángò-Ungarn werden nach wie vor diskriminiert.  Diese magyarische Volksgruppe ist bei der ungarischen Westwanderung vor 1000 Jahren im Moldaugebiet verblieben und lebte dort jahrhundertelang vom Muttervolk getrennt. So verwundert es nicht, dass sie einen altertümlichen ungarischen Dialekt sprechen und viele von ihnen nur noch die rumänische Sprache beherrschen. Die etwa 300.000 Csángòs sind im Unterschied zu den Rumänen römisch-katholisch, was neben der Sprache identitätsstiftend wirkte. Hinzu kommt, dass ihre Siedlungs- Gebiete wirtschaftlich unterentwickelt sind und die Volksgruppe durch Stadtflucht weiter an Rückhalt einbüßt. Die FUEV bemüht sich um eine Verbesserung der Lage.(10)

5b) Ungarn in der Slowakei

Nach der Volkszählung von 2011 leben 458.467 Magyaren in der Slowakei, das sind fast 8,5% der Gesamtbevölkerung. Sie leben vor allem im Süden des Landes entlang der ungarischen Grenze, dazu noch in einigen Sprachinseln in der Mittel- und Ostslowakei.(11)

Nachdem die Slowakei 1993 die Eigenstaatlichkeit durchgesetzt hatte verfolgten die Regierungen unter Vladimir Meciar und Fico einen streng nationalistischen Kurs. So wurde 1995 Slowakisch als einzig offizielle Staatssprache erklärt – gegen die Stimmen von 17 ungarischen Abgeordneten. Auch versuchte man mit Gesetzes-Initiativen die Zahl ungarischer Schulen (z.T. handelt es sich um sogenannte Kleinklassenschulen)  einzugrenzen und die Mittel für die ungarische Kultur zu reduzieren. Dagegen gab es massive Protestkundgebungen der ungarischen Minderheit.(12)  
Andererseits wird die Auseinandersetzung aber auch von de rechten Regierung Ungarns  angeheizt.

Nichts destotrotz ist die ungarische Minderheit in der Slowakei ausgesprochen geschichts- und selbstbewusst. Die Versuche der Regierungen Meciar und Fico, das Ungarische im öffentlichen Leben zugunsten des Slowakischen zurückzudrängen, sind am ausgeprägten Selbstbehauptungswillen de Ungarn gescheitert.(13) 

Immerhin gibt es in der Slowakei ca. 580 Schulen in denen auf ungarisch unterrichtet wird und weitere etwa 200 bilinguale Schulen (slowakisch-ungarisch). Es gibt in Komarno eine eigene ungarisch-sprachige Universität, es gibt ungarische Zeitungen und Zeitschriften. Dazu ein Sendeprogramm des Slowakischen Rundfunks Radio Patria, das mehrheitlich auf ungarisch sendet. Zwei ungarische politische Parteien vertreten die magyarische Minderheit, aktuell sind 13 ungarische Abgeordnete im Parlament von Bratislava.(14)  

5c) Ungarn in Österreich

siehe dazu meinen separaten Post 
2.335Ungarn im Burgenland / Österreich        

5d) Ungarn in der Ukraine  

siehe dazu meinen separaten Post                  
2.336 Ungarn in der Ukraine (Karpato-Ukraine)  

5e) Ungarische Volksgruppe in der Vojvodina / Serbien                                                 - folgen Sie hier dem Link und dort Punkt 5.1
               
Dazu kommen noch kleinere ungarische Volksgruppen in Slowenien und Kroatien.

6. Politische Situation und Perspektiven


Wie schon eingangs erwähnt, hat die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Orban in den letzten Jahren mit Demokratie- und marktpolitisch bedenklichen Gesetzen für Besorgnisse in der EU gesorgt. So bekam die regierungsabhängige Medienbehörde großen Einfluss auf die Fernseh- und Rundfunkanstalten, die ungarische Notenbank ist praktisch nicht mehr unabhängig und künftigen Regierungen sind in der Steuer- und Rentenpolitik die Hände gebunden.[15]  Völkerrechtlich bedenklich und von den Nachbarstaaten erheblich kritisiert, war das bereits von der ersten Orban-Regierung 2001 verabschiedete sogenannte Statusgesetz über die in den Nachbarstaaten lebenden Ungarn. Den ungarischen Vereinen und Verbänden wurden einmalige und auch dauerhafte finanzielle Unterstützungen zugesichert, so z. B. monatliche Zahlungen an Familien mit Kindern, die in ungarisch-sprachige Kindergärten oder Schulen gehen.[16] Nach dem Wahlsieg von Viktor Orbans Fidesz-Partei im Jahre 2010 und dem gleichzeitigen Einzug einer starken Fraktion der rechtsradikalen Jobbik-Partei ins ungarische Parlament wurde ein Gesetz erlassen, dass ca. 2,5 Millionen Mitgliedern der ungarischen Minderheit in den Nachbarstaaten die Möglichkeit gibt, die ungarische Staatsbürgerschaft zu erwerben, womit sie zu doppelten Staatsbürgern werden. Dies führte dazu, dass bei den Wahlen 2014 erstmals auch ca. 200.000 ethnische Ungarn aus den Nachbarstaaten wahlberechtigt waren, die natürlich überwiegend Orbans Partei wählten, die ihnen dieses Recht ermöglichte.
Zweifellos hat Orban den Ungarn ein neues Nationalgefühl vermittelt. Auch schätzen viele das Image eines starken Staatsmannes, der sich von der EU und den USA nichts vorschreiben lässt, sein rigoroses Vorgehen gegen die Banken und seine bisherigen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Erfolge, die allerdings zum Großteil durch staatliche Investitionen erreicht wurden. Aufgrund seiner Politik gerät Orban im Westen immer mehr in die Isolation, weshalb er nun neue Kontakte zu Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan pflegt. Auch in Asien will Orban neue politische und wirtschaftliche Partner finden. Bisher besteht aber immer noch eine starke Verflechtung mit der EU, in die 76 % der ungarischen Export gehen.[17] In jüngster Zeit ist die ungarische Regierung vor allem mit einer stark abwehrenden Haltung gegen Flüchtlinge hervorgetreten, u. a. durch die Errichtung von Stacheldrahtzäunen an ihren Grenzen. Die weitere Entwicklung Ungarns wird daher spannend bleiben.







[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Trianon und http://www.suedostdeutsche.de/vertrag-von-trianon.html
[2] http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Stephan_I. und

http://de.wikipedia.org/wiki/Árpáden
[3] Klemens Ludwig: Ethnische Minderheiten in Europa (Beck’sche Reihe) 1995, S. 214f
(3a) Staatsbürgerliche Informationen der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn, Ausgabe 92, März-April 1961

[5] Klemens Ludwig: Ethnische Minderheiten in Europa (Beck’sche Reihe) 1995, S. 215f

[6] Claude Hagège: Welche Sprache für Europa? – Campus-Verlag 1996, S. 170ff und Das Fischer-Lexikon Sprachen S. 90ff und 331ff

[7] http://www.owep.de/artikel/597/ungarn-und-magyarischen-minderheiten-in-den-nachbarstaaten
(8)  Pogrom 249/250_4-5/2008 

(9) http://www.taz.de/Ungarische-Minderheit-in-Rumaenien/!126331/ - taz vom 28. 10. 2013

(10) Reinhardt Olt: „Vergessene Volksgruppe“ FAZ v, 7. 6. 1993 und pogrom 174 / 1994

(11) http://de.wikipedia.org/wiki/Magyaren_in_der_Slowakei

(12) http://derstandard.at/1385169723258/Slowakei-Ungarnminderheit-kritisiert-Minderheitenpolitik

(13) http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/streit-zwischen-ungarn-und-slowakei-das-echo-von-trianon-1839140.html -   FAZ v. 25. 8. 2009

(14) http://de.wikipedia.org/wiki/Magyaren_in_der_Slowakei



[15] http://www.tagesschau.de/ausland/ungarn-wahl108.html
[16] http://www.owep.de/artikel/597/ungarn-und-magyarischen-minderheiten-in-den-nachbarstaaten

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen